Auf der Suche nach dem alternativen Leben. Hermann Hesse vor dem Hintergrund des Monte Verità

Im April 1907 flieht der knapp 30-jährige Hermann Hesse vor seinem bürgerlichen Leben – insbesondere vor Ehefrau und Familie – in Richtung Locarno respektive Ascona auf den Monte Verità, wo sich seit einem knappen Jahrzehnt eine Gruppe versammelt hat, die dem Stadtleben den Rücken kehrte, um ein reformerisches, alternatives Leben zu führen. Zwar waren es lediglich vier Wochen, die Hesse auf der Suche nach transzendentalem Obdach und neuer (körperlicher) Erfahrung im Tessin verbrachte, aber ebendiese Eindrücke sollten eine literarische Produktivität nach sich ziehen. Insbesondere in der kurzen Erzählung In den Felsen (1907) verarbeitet und verfremdet Hesse diese Wochen der Einsiedelei.

 

Der Ich-Erzähler nimmt das scheinbare Ergebnis seiner Einsamkeit vorweg:

 

»Die ersten Tage meiner Einsiedlerschaft sind schrecklich gewesen. Jetzt, da sie vorüber sind, fühle ich mich sicher und beinahe behaglich. Ich schreibe diese Worte in meiner Bretterhütte am Boden liegend, es regnet heftig und ist so kühl, daß ich mich bis unter die Arme in meine Wolldecke gewickelt habe. Nun bin ich doch froh, daß ich Papier und Bleistift mitgenommen habe, obwohl diese Art von Zeitvertreib eigentlich wider mein Vorhaben ist. […] Was ich hier lernen und erleben wollte, habe ich eigentlich schon alles gefunden. Ich habe die Einsamkeit kennengelernt und die Not, ich bin zum ursprünglichen Leben zurückgekehrt und habe meine eingeschlafenen Instinkte erwachen sehen.«1

 

Das Wecken ebendieser Instinkte war gleichsam ein beschwerlicher Prozess: »Mein Kopf surrte vor Schmerzen, meine überall geritzte und entzündete Haut brannte und biß, meine Kehle lechzte trocken. Ich kaute welke Blätter, um einen feuchten Mund zu bekommen, und ohne zu schlafen träumte ich Fieberträume aus meinem früheren Leben.« (S. 315)

 

Es folgen Tage des quälenden Fastens und der körperlichen Schwäche, bis das Hungergefühl aufhörte, »[n]achdem ich vier Tage ohne Speise gewesen war. […] Im ganzen blieb ich sieben Tage ohne Essen. Während dieser Zeit schälte und erneuerte sich meine Haut, ich gewöhnte mich an Nacktsein, hartes Liegen, an Sonnenhitze und kalten Nachtwind.« (S. 319) Die Transformation des Körpers scheint geglückt, die physische Verbindung von Individuum und Natur, Körper und Erdboden wiederhergestellt. Es stellt sich eine lustvolle Einsamkeit ein: »Ich höre und sehe das Leben der Erde, lebe und atme mit, bin ruhig und bescheiden geworden. […] Doch habe ich auch die Kunst gelernt, einen halben oder ganzen Tag gar nichts zu tun, auf einem Felsen zu sitzen, der von Sonne glüht, die Bildungen der Moose zu betrachten und zu warten, ob etwa ein Sperber vorüberfliegt.« (S. 321)

 

Der Text verbleibt jedoch nicht in dieser ungebrochenen Seligkeit, weil eine wichtige Komponente für eine emphatische Sicht auf die Einsamkeit fehlt: die Transformation des Geistes.

 

Hier lohnt sich ein erneuter Blick auf den Anfang der Erzählung: Nach der Überwindung der Not, dem Überleben in der wilden Natur, eingegraben in die Erde und tagelang fastend hat der Ich-Erzähler sich selbst nichts mehr zu beweisen – und kann daher wieder im Dorf einkaufen (vgl. S. 322), sich bei Regen in die Hütte zurückziehen, in die Wolldecke einwickeln und vor allem – Schreiben. Das ist laut Hesse erst nach der existenziellen Einsamkeit möglich; erst die Reinigung des Körpers trägt Früchte des Geistes. Damit steht Hesse ganz im Sinne der Lebensreformbewegung um 1900, deren langer Arm bis in unsere Gegenwart eingreift.

 

Patrick Graur (FAU Erlangen-Nürnberg)

 

Beitragsbild: Postkarte von Erich Mühsam vom Sanatorium Monte Verità (um 1904).

 

Zum Weiterlesen

 

Hermann Hesse: In den Felsen. Notizen eines Naturmenschen [1907]. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von Volker Michels. Bd. 11: Autobiographische Schriften. Frankfurt a.M. 2003. S. 314–322.

 

Stefan Bollmann: Monte Verità 1900. Der Traum vom alternativen Leben beginnt. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2017.

  1. Hermann Hesse, »In den Felsen. Notizen eines Naturmenschen [1907]«, in: Sämtliche Werke, hrsg. von Volker Michels, Bd. 11: Autobiographische Schriften, Frankfurt a.M, 2003, S. 314. []

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