Eisige Einsamkeiten: Von Grenzerfahrungen und Environmental Humanities

Das Vordringen in eisige Höhen wird zum Maßstab für das Empfinden und Erzeugen (selbstgewählter) Einsamkeit und hilft, die Beziehung von zwischen Örtlichkeit und menschlicher Erfahrung neu auszuloten.

 

Nach wie vor, so sagen es Autor/-innen wie Erling Kagge, Rekordhalter dafür, als erster Mensch alle drei Pole (Nord-, Südpol, Mount Everest) der Erde zu Fuß erreicht zu haben, und Christiane Ritter, die erste westeuropäische Frau, die ein Jahr auf Svalbard verbrachte, fasziniert die Leser/-innen dabei jedoch nicht der Rekord am meisten, sondern die Frage, wie man eine solche Einsamkeit so lange aushalten kann. Klassiker des Nature Writing wie Peter Matthiessens The Snow Leopard verdeutlichen, dass diese Einsamkeitserfahrung an Transzendenzerfahrungen geknüpft ist, da die extreme Einsamkeit der Höhen eine Selbstreflektion ermöglicht, die an weniger abgelegenen und weniger schwer zugänglichen Orten nicht möglich wäre. Diese spirituelle Suche nach eisiger Einsamkeit büßt auch nichts von ihrer Faszination ein, wenn die Reise tragisch endet.

 

John Krakauers Into the Wild, das die Reise des Christopher McCandless in die Wälder Alaskas rekonstruiert, stieß schließlich auf so viel Begeisterung, dass der ausrangierte Linienbus, der McCandless letzte Unterkunft bot, vom Schauplatz entfernt wurde, weil zu viele Nachahmer/-innen immer wieder gerettet werden mussten und die Einsamkeit zerstörten. Nachahmung findet auch Matthiessens Suche nach dem Schneeleoparden bei Sylvain Tesson, der dieser Suche jedoch im Kontext des Klimawandels eine weitere Dimension verleiht. Dies kann, auch im Hinblick auf den stetig wachsenden Korpus von Klimawandelliteratur, als Anlass dafür genommen werden, Reiseberichte zu den eisigen Höhen einer erneuten Lektüre unter Kriterien der Environmental Humanities zu unterziehen und sie auf die Beziehung von Legitimität und Authentizität zu untersuchen. Wirken diese Berichte z.B. deshalb besonders packend, gerade weil sie Augenzeug/-innenberichte sind, weil die Verfasser/-innen eine wissenschaftliche Expertise vorweisen, weil immer neue Fakten vermittelt werden?

 

Die eisigen Einsamkeitsverklärungen können so schnell als deren Elegie gelesen werden, als (möglicherweise) letzte Berichte derjenigen, die die Eiswüsten und verschneiten Gipfel noch als solche erlebt und mit eigenen Augen gesehen haben. Dabei wird, gleich ob Reiseberichte aus der Zeit der großen Explorationen oder modernes Nature Writing, immer ein kritisches Naturverhältnis präsentiert und herausgefordert, das längst über die spirituelle Suche in einer erhabenen Landschaft hinausgeht. Selbstreflektion wird so nicht nur Aufgabe der Verfassenden, sondern auch der Lesenden – denn wie ein solcher Text über eisige Einsamkeiten bewertet, gelesen und verstanden wird, lässt sich auch außerhalb der kalten Gefilde erproben.

 

Svenja Engelmann-Kewitz

 

Beitragsbild: Das arktische Packeis mit Presseisrücken am geographischen Nordpol. 17. April, 1990. Photo: Lorenz.King@geogr.uni-giessen.de

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