Traurige Weihnachten im Jahr 1946

Weihnachtslieder singt man gerne, auch wenn die Familie zum Heiligabend zusammenkommt. Als ich noch ein Kind war, sang man zuerst die beliebtesten Weihnachtslieder, dann gab es eine ernste Pause, und nach der Pause kam das Lied über traurige Weihnachten im Jahr 1946. Es ist ein Lied aus Galizien, dem Gebiet im Westen des Landes, das erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Teil der Sowjetunion wurde. Bis 1945 feierte man dort Weihnachten traditionell, mit Vertep und Koladky – westliche Weihnachten am 24. Dezember und orthodoxe am 6 Januar. In Galizien feierte man beides, da die Familien meistens gemischt waren. So ist es eigentlich immer noch, so hat man relativ viel Zeit für Vertep, Koladky und das Zusammensein mit Familie und Freunde.


Ab 1945 durfte man zwar Weihnachten feiern, aber es wurde als reaktionär und nationalistisch angesehen, und man musste mit den entsprechenden Konsequenzen rechnen. Zum Beispiel kam man in den 50er-Jahren für das Aufbewahren von ›verbotener Literatur‹ vor Gericht. Unter verbotenen Literatur verstand man auch die Texte von traditionellen Weihnachtsliedern. Nach der Verhaftung gab es einen kurzen Gerichtsprozess, der entweder mit 25 Jahren Lager (eine übliche sowjetische Strafe) oder sogar mit dem Todesurteil endete. Man findet heute noch Dokumente über viele in den 50er-Jahren hingerichtete Minderjährige aus Galizien, die gerade wegen Weihnachtslieder verhaftet worden waren. Das Urteil hieß ›Nationalismusverdacht‹ – das schwerste Verbrechen in der Sowjetunion.


Das Weihnachtslied über traurige Weihnachten im Jahr 1946 erzählt von einer Mutter, die am Heiligen Abend mit den Kindern beim Tisch sitzt, sie beweinen den Vater, der nach Sibirien geschickt worden ist, und man weiß nicht, ob er noch lebt. Zahlreiche Ukrainer waren in den sowjetischen Lagern, hungerten, starben, aber so lange sie konnten, sangen sie ihre traurige ›nationalistischen‹ Weihnachtslieder.


Meine Oma erzählte mir einmal, wie das Leben damals in ihrem Dorf, in der Nähe von Lemberg, ausgesehen hat. Der Opa kam zurück aus dem Krieg. Er wurde als Minderjähriger nach Auschwitz verschleppt. Aber dort hat man ihn unter einem Stapel schmutziger Wäsche versteckt und so gerettet. Dann war er Zwangsarbeiter in Österreich. Als die Rote Armee nach Österreich kam, zog er mit und kämpfte in der Roten Armee bis zum Sieg. Nichts desto trotz wäre er als Verräter eingestuft worden, hätte man von seinem Leben in Österreich erfahren. In der Sowjetunion war jeder, der in der Gefangenschaft gewesen war oder auf erobertem Gebiet lebte, automatisch ein Verräter. So vernichtete mein Opa alle Dokumente, die für ihn gefährlich sein konnten, und kam zurück. Er wurde zum Parteimitgiled und bemühte sich sehr der neuen Realität anzupassen. Meine Oma vernichtete ebenso alle Dokumente, die für sie gefährlich sein konnten. Die Zeugnisse aus der k.u.k. Zeit, die Zeugnisse aus der polnischen Schule, die Akten, dass ihr Vater etwas Land besessen hatte. Das Land war ihr sowieso längst weggenommen worden, aber selbst die Information darüber, konnte gefährlich sein.


Meine Großeltern heirateten und bekamen Kinder. Fast jeden Tag wurden sie von den sowjetischen Polizisten kontrolliert, ob sie in ihrem Haus keinen Widerstandskämpfern verstecken. Oder ›Nationalisten‹, wie es auf der Sprache der russischen Propaganda, immer noch heißt. Nachts kamen die Widerstandskämpfer aus dem Wald und baten ums Essen. Das Essen war knapp, aber Oma meisterte das immer. Einmal ging sie mit dem Essen ins Wald. Hinter ihr waren zwei sowjetische Polizisten, die das Versteck von Partisanen wissen wollten. Die Partisanen sahen die Polizisten und haben angefangen zu schießen. Oma konnte noch wegrennen, die Partisanen wurden erschossen.


Außer Vertep und Koladky, die wegen ihren ›nationalistischen‹ Inhalte verboten waren, gab es noch ukrainische bestickte Trachten, die ebenso verboten waren. Bereits das Tragen der Stickereien war verdächtig und galt als ›nationalistisch‹. In der Lemberger Schule, wo meine beiden Kinder lernten, gibt es eine alte Tradition. Jedes Kind, das in die erste Klasse kommt, soll einen bestickten Kragen haben. Diese Tradition galt in dieser Schule schon immer und war selbst in den tiefsten sowjetischen Zeiten dort erlaubt. Die Schule war eine der wenigen ukrainischen Gymnasien in der Stadt – bereist in den österreichischen und polnischen Zeiten. Jetzt ist es eine Schule mit dem Schwerpunkt Deutsch.


Ich bin mir fast sicher, dass auch in diesem Jahr in der Ukraine viele Vertepe unterwegs sein werden, in bestickten Kleidung, die jetzt sehr populär ist, und die alte Weihnachtslieder singen. Auch das über die traurigen Weihnachten im Jahr 1946. Womöglich werden sogar neue Koladky entstehen. Über das traurige Weihnachten im Jahr 2022. Diese Weihnachtslieder werden in den dunklen Wohnungen gesungen, wo es seit Tagen keinen Strom gibt, in den Luftschutzbunkern, wo seit Wochen der meiste Schulunterricht in Lemberg stattfindet, auch in den Schützengräben werden sie gesungen werden. Trotz Wut, trotzt Tränen, trotz allem.

Foto Natalka Sniadanko: Katheryna Slipchenko.

kommentar

Die E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Ich akzeptiere die Datenschutzhinweise gemäß DSGVO.