Über die Wünschbarkeit einer Praxis der immersiven Einsamkeit (Theresa Reiwer: Social Capsule)

Ich habe mich bei einer ominösen Agentur namens WELCOME HOME GROUP zum Probewohnen in einem Tiny House angemeldet. Versprochen wird mir eine »persönliche Komfortzone« in »freundlicher Koexistenz mit der hauseigenen Künstlichen Intelligenz« und einer »Augmented-Reality-Mitbewohnerin«, eine »Begegnungsstätte, die empathisches Miteinander bietet und anregt, ohne anzustrengen«, eine »Berührung der eigenen vier Wände mit Emotionen on demand«. Gleich bei Betreten geht automatisch eine smarte, indirekte Beleuchtung an, gleichzeitig spricht eine körperlose Stimme zu mir: »Hey, welcome home!« Anschließend werde ich ›gescannt‹ (das Licht beginnt zu flackern, ein Surren ist zu hören), bis die Stimme wieder erklingt: »Toll, du passt super zu uns.« Ich werde aufgefordert, meine Schuhe auszuziehen und in die bereitgelegten Pantoffeln zu schlüpfen. Mit einem iPad ausgestattet soll ich es mir in der einladenden und – für Tiny-House-Verhältnisse relativ großzügigen – Sofaecke bequem machen.

 

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Einsamkeit zuzulassen heißt hier, sich frei zu halten von der Erwartung einer Begegnung mit anderen, sogenannten echten Menschen; einsam macht jedoch auch die Einsicht, sich mit der durchaus anwesenden Avatar-KI nur einigermaßen einspurig und zu deren Bedingungen unterhalten zu können. Hinter diesen Einsamkeiten liegt jedoch die Möglichkeit, mit anderen Anteilen des Eigenen in Kontakt zu treten und diesen nachzuspüren – als fremden, unbekannten Zonen des Selbst, die viel digitaler und künstlicher verfasst sind, als mir bisweilen lieb ist.

 

Die unheimliche, redundante, befremdliche Begegnung mit dem Avatar in Social Capsule scheint darauf hinauszulaufen, diesen als fremde, künstliche, anorganische, entzogene Spur von Körper anzuerkennen – und in demselben Zug auch die fremden, künstlichen, anorganischen Anteile meiner selbst anzuerkennen und zu bezeugen. Eine Öffnung und Entäußerung auf den anderen Körper öffnet mich in dieser Arbeit also nicht auf eine andere menschliche Alterität, sondern auf das technische, artifizielle, künstliche, fiktionale an und in mir selbst – und entfremdet mich darin von meinem eigenen, bloß menschlichen Selbstbezug. Zu begegnen wäre damit in Social Capsule keinen anderen Körpern, die von mir angeeignet werden können, sondern Formen digitaler, fiktionaler, künstlich hergestellter oder zumindest stets nur vermittelt anwesender Spuren von Körpern, deren Begegnung uns gerade dort besonders unbehaglich erscheinen mag, wo in und durch uns eine gleichsam unverfügbare und entfremdete Instanz auf sie antwortet.

 

In einer größeren Perspektive wird damit gleichzeitig die Grenze des Theaterdispositivs als solchem aufgerufen und ausgehöhlt oder zumindest kritisch befragt: Dessen Minimaldefinition könnte ja lauten, dass gleichzeitig anwesende Körper sich gegenseitig dabei zusehen, wie sie Handlungen vollziehen. Dem entgegen bietet sich hier ein Raum, der die Möglichkeit etabliert, zu erfahren, was es heißt, in sich Anteile zu tragen, die nie meine eigenen gewesen sein werden – und dies doch in Abwesenheit anderer Menschen. Solcher Art Einsamkeit wirft dann niemanden mehr auf sich selbst zurück, sondern auf all die immer schon anderen in uns.

 

Felix Stenger (Freie Universität Berlin)

 

Beitragsbild: Anna Tiessen.

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