Auf der einen Seite wünscht sich Bettina stets in Goethes Nähe und versucht sie aus den Briefen wiederherzustellen: »Dein Brief war ganz rasch da, ich glaubte Deinen Atem noch darin zu erhaschen, noch eh ich ihn gelesen hatte, habe ich dem eine Falle gestellt.«1 Eine andere Strategie, um ihrem Geliebten wieder näher zu kommen, ist die Rückwärtsdatierung der Briefe: »Merkst Du denn nicht, daß mein Datum immer zurück statt vorwärts geht? – Ich habe mir nämlich eine List ausgesonnen; da die Zeit mich immer weiter trägt und nie zu Dir, so will ich zurückgehen bis auf den Tag, wo ich bei Dir war, und dort will ich stehenbleiben und will von dem: In Zukunft und: Mit der Zeit und: Bald gar nichts mehr wissen, sondern dem allen den Rücken kehren, ich will der Zukunft ein Schloß vor die Tür legen und somit Dir auch den Weg versperren, daß Du nirgends als zu mir kannst.« (S. 306)
Auffallend ist vor dem Hintergrund dieser Sehnsucht nach körperlicher Nähe jedoch, dass trotzdem in den mündlichen Gesprächen der beiden hauptsächlich über den Schriftverkehr geredet wird. Es wird deutlich, dass die Abwesenheit des Adressaten die Bedingung dafür ist, dass Bettina ihre Gedanken schriftlich verfertigen kann. Nur so entsteht ein Text, der später veröffentlicht werden kann. Goethe funktioniert somit als Strohmann, dessen Name prominent auf dem Deckblatt platziert ist, dessen eigener Textanteil aber verschwindend gering ist. Stattdessen geht es um Bettinas Reflexionen, die sie an Goethe richtet und als dessen Inspiration er fungiert.
Der Brief ist dabei das angemessene Medium, da er im 18. Jahrhundert das Kommunikationsmittel der Einsamen wird, die außergesellschaftlich kommunizieren und so ihre Einsamkeit mitteilbar machen. Darüber hinaus ist der Brief um 1800 das weibliche Textgenre schlechthin, während kanonisierte Gattungen nur Männern zugetraut wurden. In der gleichen Art verhält es sich auch mit der Einsamkeit: Während Frauen als sehr gesellige Wesen verstanden wurden, die ihre Zeit am liebsten lästernd in den Großstädten verbringen, sucht das männliche Genie die Einsamkeit in der Natur, wo es in Ruhe Kunstwerke schaffen kann.
Bettina schafft es nun, sich gegen diese Geschlechterzuschreibungen als Einzelgängerin, ja sogar als Genie zu inszenieren. Mit ihren lästernden weiblichen Verwandten kann sie nichts anfangen, lieber zieht sie sich zurück, phantasiert Goethe herbei und schreibt ihm Briefe, als würde sie mit ihm sprechen. In dieser Geistesverwandtschaft mit Goethe kanonisiert sie sich selbst und schwingt sich zur Autorin auf, eine Funktion, die ihr eigentlich systematisch versperrt wurde. Die Bedingung dafür ist nicht zuletzt, stets sicher zu gehen, dass der geliebte Goethe fernbleibt, damit sie ihm Briefe schreiben kann, die auch in zweihundert Jahren noch gelesen werden können.
Sven Spaltner
- Alle Zitate nach Arnim, Bettina von: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, in: dies.: Werke, hrsg. von Heinz Härtl, Bd. 1, Berlin 1986, S. 363. [↩]