ton und stimme

Alle diese Text- und Tondokumente halten etwas fest, das über Lied, Libretto und Notendruck hinausgeht: literarische Erfahrung nämlich, die zugleich auch auditive oder musikalische Erfahrung ist. Solche Erfahrung kann Einzelne erfreuen oder Gemeinschaften wie Lesekreise, Liedertafeln oder Chöre erst konstituieren, Hören kann rezeptiv oder selbst schon produktiv und kreativ sein.

 

Der Sammlungsort Marbach verdankt sich bekanntlich der Verehrung Friedrich Schillers. Dokumente auditiver Literaturerfahrung hat man von Anbeginn als Teil von Schillers Wirkungsgeschichte ebenso gesammelt wie die in großem Stil produzierte Gelegenheitswerke (Kantaten und Chorkompositionen) für Schillerfeiern. Hinzu kommen wertvolle Musikautographen von Johannes Brahms, Helmut Lachenmann, Franz Liszt, Max Reger, Franz Schubert, Louis Spohr und Hugo Wolf.

 

Ein Schwerpunkt der Sammeltätigkeit im DLA liegt neben Schiller seit jeher auf den schwäbischen Lyrikern des 19. Jahrhunderts (Uhland, Mörike, Kerner, Hauff). Das DLA besitzt mit rund 300 nachgewiesenen Kompositionen die weltweit umfangreichste Sammlung von Vertonungen von Gedichten Eduard Mörikes. Diese Sammlung wird wo immer möglich ergänzt. Jüngste Erwerbungen sind die Mörike-Sammlung Berge, das Familienarchiv Schmid-Kauffmann – mit Noten aus dem Nachlass des Mörike-Freundes Ernst Friedrich Kauffmann – und die Sammlung Georg Günther mit rund 1.100 gedruckten Liedvertonungen, davon etwa ein Drittel zu den genannten schwäbischen Dichtern.

 

Rund die Hälfte des Marbacher Musikalienbestandes verdankt sich einer gezielten Sammeltätigkeit zu Schiller, Mörike und der schwäbischen Romantik. Weitere Schätze der Sammlung gelangten über Autorennachlässen ins Haus. Entweder, weil die Autoren selbst musikaffin waren (Johannes Bobrowski, Hermann Claudius, Oskar Loerke, Rudolf Pannwitz u.a.) oder weil sie häufig vertont wurden (Hermann Hesse).

 

Teil der Sammlungen im DLA Marbach sind nicht nur Notendrucke und Handschriften, sondern zum Beispiel auch Schallplatten-Pressungen als Belege, die oft nur geringe Stückzahlen (1 bis 3 Platten) erreichten; darunter eine Einspielung der Nationalhymne von Rudolf Alexander Schröder. In den Verlagsarchiven von Reclam, Suhrkamp und Insel finden sich Drucke und Handschriften von Opern und Bühnenmusiken. Eine Besonderheit ist der Nachlass der Sopranistin Marie Reclam, geb. Sachs, die als Teil des Reclam-Verlagsarchivs 2020 erworben werden konnte. Hier sind bislang unbekannte Autographen von Robert Schumann, Ignaz Moscheles und Felix Mendelssohn Bartholdy hervorzuheben.

 

Mit den Nachlässen von Willy Prager und Rio Reiser wurden im DLA auch genuine Musiker mit Bezug zur Literatur gesammelt. Beide waren Vertreter der populären Kultur. Der eine als Komponist und Texter in Kabarett, Schlager und musikalischer Revue der 1920er-Jahre, der andere als Singer-Songwriter der 1968er mit bewusstem Rekurs auf die deutschsprachige Literatur. Das Spektrum der im Nachlass Reiser vorhandenen Materialien reicht von Aufführungsberichten und Klavierauszügen über Musik auf Tonbändern bis zu Songlists, Tourenplänen und Probendispositionen.

 

Das DLA begleitet sammelnd aber auch die Entwicklung musikalisch-literarische Formen, die nicht mehr von ihrer auditiven Realisierung abgelöst werden können: Poetry Slam, der die traditionelle Dichterlesung durch bühnentaugliche Elemente ergänzt, und literarische Performance-Kunst (wie z.B. durch die Erwerbung des Archivs Killroy media).

 

Angestoßen, betrieben und auch auf digitalem Wege befördert werden soll grundsätzlich die Forschung im intermedialen Feld ›Musik und Literatur‹. In einem ersten Schritt planen wir deshalb ein Erschließungsprojekt der Notendrucke und Musikhandschriften, die bislang erst zu einem geringen Teil verzeichnet sind. Im Rahmen von Forschungsprojekten konzentrieren wir uns auf jene zahlreichen Dokumente auditiver Erfahrung von Literatur, die in der Musikwissenschaft Music Performance Ephemera heißen: Programme, Konzertankündigungen, Rezensionen usw. Diese mitunter in hoher Auflage produzierten Dokumente sind häufig nicht überliefert, da sie in der Vergangenheit nicht als bewahrenswert erkannt wurden. Für empirische, anthropologische und kulturgeschichtliche Fragestellungen sind sie jedoch von großer Bedeutung.

 

2023 wollen wir die Aufführungspraktiken von Literatur und ihre Wahrnehmungsformen schließlich selbst performativ, nämlich in einer Ausstellung zum Klingen bringen.

 

Gunilla Eschenbach und Sandra Richter

 

Beitragsbild: Blick in die Musikaliensammlung. Foto: DLA Marbach (Jens Tremmel).

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