Erster Schnappschuss im Erinnerungsalbum: 1828 liest Emerson Goethes Roman Wilhelm Meister in der Übersetzung von Thomas Carlyle. 1836 beginnt Emerson, Deutsch zu lernen und bringt es zu halbwegs passabler Lesefähigkeit. In seiner 55-bändigen Ausgabe von Goethes Werken liest er Goethe im Original, der Weimarer Klassiker bleibt für ihn sein Leben lang wichtig. Auch wenn Emerson Goethe nicht verklärt, so würdigt er ihn in seinem berühmten Essay-Band Representative Men (1850) doch als »den Schriftsteller« – neben Platon (»der Philosoph«), Swedenborg (»der Mystiker«), Montaigne (»der Skeptiker«), Shakespeare (»der Dichter«) und Napoleon (»der Mann der Welt«).
Zweiter Schnappschuss im Erinnerungsalbum: Unter denjenigen deutschen Dichtern und Denkern, die Emerson ein außergewöhnliches Interesse entgegenbrachten, steht Friedrich Nietzsche seiner Bedeutung nach an erster Stelle. Schon im Landesgymnasium in Schulpforta lernt er Werke Emersons in Übersetzung kennen. Und fängt nachhaltig Feuer. Nietzsches vierbändige Ausgabe der Essays von Emerson zeigt deutliche Gebrauchsspuren und ist mit vielen Randbemerkungen versehen. So kritzelt er beispielsweise an den Rand: »Sehr Gut!«, »Herrlich!«, »Das ist wahr!«. Außerdem wird berichtet, dass er 1874 nach dem Diebstahl seines Koffers mit einem Emerson-Band sofort eine neue Ausgabe erwarb. Was Nietzsche an Emerson begeisterte, war wohl dessen Abkehr von Christentum und seine beherzte Vision eines selbstbewussten Lebens ohne Zwänge. Dass Emerson eine breite Leserschaft erreichte, spiegelt auch eine sechsbändige Ausgabe der Werke Emersons im Verlag Eugen Diederichs wider, deren erster Band 1902 in avantgardistischer Buchgestaltung erschien.
Und heute? Wer das Amerika des 21. Jahrhunderts verstehen will, tut immer noch gut, sich mit dem am 25. Main 1803 in Boston geborenen Sohn eines unitarischen Predigers zu beschäftigen. Emersons Leben und Werk tragen seiner Überzeugung Rechnung, dass »wer ein Mann sein will, kein Konformist sein darf«. Nach seinem Studium in Harvard war er 1829 Pastor der unitarischen Old North Church in Boston geworden, drei Jahre später legte er sein Amt nieder, weil er nicht mehr an die übliche Abendmahlsfeier zu glauben vermochte (im Lauf der Jahre wurde Emerson schließlich zum Kritiker aller Formen institutionalisierten Glaubens). Emerson, nach kurzer Ehe Witwer geworden, ging 1832 nach Europa, bereiste Frankreich, Italien und England (dem er später eine glänzende völkerkundliche Studie widmete), lernte u.a. Coleridge und Wordsworth kennen und schloss eine lebenslange Freundschaft mit Carlyle.
Zurück in Amerika, ließ sich der erneut verheiratete Emerson 1835 als freier Schriftsteller in Concord (Mass.) nieder, einem 2.000-Seelen-Städtchen, das so als Zentrum der ersten eigenständigen philosophisch-literarischen Schule Amerikas in die Geschichte einging: Der Transzendentalismus, »Ausbruch der Romantik auf puritanischer Scholle« (Perry Miller), war gleichsam Amerikas »intellektuelle Unabhängigkeitserklärung« (als solche hatte Oliver Wendell Holmes Emersons Harvard-Ansprache Der amerikanische Gelehrte bezeichnet). Pragmatismus, Optimismus, Glaube an die Teilhabe am »universalen Sein« – sie erwachsen bei den Transzendentalisten, als deren bedeutendsten Vertreter Emerson und sein Freund Henry David Thoreau gelten, aus dem Vertrauen an die göttlichen Kräfte, die dem individuellen Selbst innewohnen. Mutige Introspektion (ein puritanisches Erbe) und die Zuversicht des Pioniers, der auf die Übereinstimmung der von ihm erkannten Richtlinien und allgemeiner (Natur-)Gesetze baut, ergänzen sich im Transzendentalismus mit Anregungen aus der Philosophie des deutschen Idealismus, der Aufklärung, des Neoplatonismus und der Theosophie. Vorrang vor aller Theorie hat jedoch stets die eigene Erfahrung: »Leben ist ein Experiment, je mehr Experimente du machst, umso besser«.
Emersons Essays gelten einem breiten Themenspektrum, der Natur und dem bedeutenden Individuum, der Freundschaft und dem Selbstvertrauen ebenso wie aktuellen gesellschaftlichen Fragen. Ob in Prosa oder in seinen knapp 200 Gedichten: stets kristallisieren sich Emersons lose Argumente um griffig formulierte Ideen und schlaglichtartig erhellende Bilder (»Unkraut? – Eine Pflanze, deren Vorzüge noch nicht entdeckt wurden«). Autor und Leser werden gleichermaßen getragen von einem Enthusiasmus im besten Sinne.
Emerson starb am 27. April 1803 in Boston. Er hat den American Way of Thinking nachhaltig beeinflusst, Emerson-Zitate dienen (manchmal allzu sorglos) vielerlei Absichten; Vorsicht ist jedoch angebracht: »Bedeutend zu sein, heißt missverstanden zu werden.«
P.S.
Vom transatlantischen Gedankenverkehr zum ›Transatlantischen Bücherverkehr‹. So ist ein Projekt überschrieben, das Teil der Marbacher Forschungslinie ›Schreibwerkzeuge, Literaturträger und literarische Objekte: Materiale Hermeneutik‹ ist und Migrationswege und Transferrouten vor und nach 1945 untersucht. Mehr dazu unter http://www.mww-forschung.de/transatlantischer-b%C3%BCcherverkehr
Dietmar Jaegle
Beitragsbild: Briefmarke mit dem Porträt Emersons aus dem Jahr 1940. Foto: Wikipedia.