Was bleibt in der Schule übrig von der Literatur?

In meiner sowjetischen Kindheit gab es viel Zeit zum Lesen und keine lesenswerte Bücher. In (fast) jeder Wohnung standen die gleichen lackierten Bücherregale mit den gleichen grau-grünen Bänden. Alles Texte aus dem sowjetischen Literaturkanon. Meistens waren es Geschichten aus der heimischen Produktion über das glückliche Leben von Fabrikarbeitern und Bauern, die kein Privatleben brauchten und gerne ihre Freizeit der sozialistischen Wirtschaft aufopferten.

 

Manche hatten Glück und durften in ihre Regalen übersetzte Bücher stellen. Die sollten natürlich auch dem erlaubten Kanon entsprechen. Es gab daher spezielle Listen und Vorschriften, denen zu entnehmen war, welche Literatur für sowjetischen Bürger/-innen übersetzt werden durfte. Trotz Millionenauflagen waren diese Übersetzungen hochdefizitär. Man musste monatelang Altpapier sammeln, um es an den entsprechenden Sammelstellen gegen spezielle Scheine zu wechseln, erst dann konnte man sich mit diesen Scheinen stundenlang anstellen, in der Hoffnung hochbegehrte Werke der Weltliteratur erwerben zu können. Geld spielte in diesem Prozess eine untergeordnete Rolle. Geld hatte jeder. Aber die erwünschten Waren dafür zu kaufen, war eine hohe Kunst, zu der es spezielle Beziehungen brauchte.

Sechs Wochen habe ich gewartet, bis ich für 24 Stunden die ukrainische Übersetzung von Pippi Langstrumpf in der Bibliothek ausleihen durfte. Ich konnte nicht warten, bis ich zu Hause war und habe mich sofort in das Buch vertieft. Ich brauchte für die Lektüre keine 24 Stunden – und begann bald wieder, auf das nächste bestellte Buch zu warten. 

 

Während meines Studiums der ukrainischen Philologie in Lemberg war es noch schwieriger, an Bücher zu kommen. Zu diesem Zeitpunkt war die Ukraine bereits unabhängig, alle Texte durften veröffentlicht werden, aber es gab keine staatlichen Subventionen mehr für die Verlage. (Damit war es auch mit den Millionenauflagen von sowjetischen Kitschliteratur vorbei.) Alle Bücher von der langen Liste der ukrainischen und Weltliteratur mussten wir im Lesesaal bestellen. Die Wartezeiten waren sehr lang; und es kam nicht allzu selten vor, dass man unvorbereitet in die Prüfung musste, weil es nicht möglich gewesen war, das entsprechende Buch zu bestellen. Manche Professoren hatten auch Verständniss dafür und waren bereit, über jene Texte zu sprechen, die tatsächlich gelesen worden waren. (Natürlich nur mit Studierenden, die Vorlesungen und Seminare bei ihnen besucht hatten und vorbereitet waren.)

 

Damals gab es noch keine Tests bei den Prüfungen im Bereich Literatur. Man war der Meinung, dass man über Literatur sprechen oder schreiben müsse. Und die Art und Weise, wie man über Literatur spricht oder schreibt, sage schon viel über Kompetenzen aus …

 

Bei meinem zweiten Studium in Freiburg erfuhr ich, dass man Literatur noch ganz anders studieren kann. Anders als im sowjetischen Hochschulsystem, das den Studierenden einen Überblick über die Literaturgeschichte verschaffen sollte, ging es jetzt darum, ausgewählte Inhalte zu vertiefen. Das allerdings führte manchmal zu erstaunlichen Wissenslücken. Ich war sehr erstaunt, als ich anlässlich eines Vortrags an einem sehr guten Gymnasium in Deutschland den kurz vor dem Abitur stehenden Schülern nicht nur erklären musste, wer Dostojewski war –sondern auch wer Rilke war. Man erklärte mir, dass man fürs Abitur nur ganz bestimmtes Wissen brauche, daher komme die Allgemeinbildung bei manchen Schüler etwas zu kurz.

 

Ein anderes Mal staunte ich über einen auf Lehramt studierenden deutschen Bekannten, der seine Abschlussarbeit über den Eltern-Kinder-Generationenkonflikt in der Literatur verfasste – und noch nie von Iwan Turgenjews Roman Väter und Söhne gehört hatte. 

 

Damals dachte ich zum ersten Mal, dass mein erstes Literaturstudium trotz aller Nachteile des sowjetischen Systems doch nicht so übel gewesen war. Ideal wäre freilich eine Kombination der beiden Modelle: gründliche Kenntnis der Literaturgeschichte verbunden mit der vertieften Beschäftigung mit bestimmten Inhalten. So gesehen, war ich in der besten Position. Damals, als junge Studentin, träumte ich davon, wie ich meinen Kindern die wunderbare Welt der Literatur eröffnen könnte. 

 

Heute klingen solche Vorstellungen sehr naiv und sind wahrscheinlich kaum zu erfüllen. Erstens, weil heutige Kinder im Gegensatz zu meiner Generation kaum Zeit und Lust zum Lesen haben, weil sie dauernd abgelenkt und mit Informationen vollgestopft werden. Zweitens, weil das Lesen der Texte, die auf dem Lehrplan stehen, nicht unbedingt zu den besten Noten führt. 

 

In der Ukraine waren Prüfungen in der Schule und Aufnahmeprüfungen vor vielen Jahren abgeschafft worden. Ich gehörte zu den ersten Versuchskaninchen, die sowohl das alte und das neue System mitbekommen haben. Wir sollten in zehn Schuljahren das Pensum schaffen, das für elf Jahren ausgearbeitet worden war; und wir mussten die ersten Tests bei den Aufnahmeprüfungen an den Hochschulen ablegen. Allerdings nicht im Fach Literatur, sondern in Geschichte, Fremdsprachen und Ukrainisch. Das Einführen von Tests war im korrupten Hochschulwesen der sowjetischen Ukraine höchst notwendig, damit auch die Abiturient/-innen eine Chance bekamen, deren Eltern die Hochschulprofessoren nicht bestechen konnten oder wollten. Aus genau demselben Grund hat man auch bei Abschlussprüfungen die Examen durch Tests ersetzt. Jetzt bezahlen Eltern die Lehrer nicht mehr für gute Noten, weil die keine Rolle spielen, sondern für Nachhilfeunterricht, damit die Schüler/-innen die Tests bestehen. Und das funktioniert in vielen Fächern bestens. Außer natürlich im Fach Literatur.

 

Als mein Sohn sich auf die Abschlussprüfungen vorbereitete, klärte mich seine Literaturlehrerin auf, dass die besten Ergebnisse bei den Tests nach ihrer Erfahrung nicht jene Schüler/-innen erzielten, die fleißig die Texte gelesen hatten, sondern jene, welche die Antworten auf Testfragen auswendig gelernt hatten. Es gab zwar jedes Jahr neue Fragen und die Lehrer hatten keinen Zugang zu den aktuellen Tests, um Korruption zu vermeiden. Aber wenn man die Fragen aus den vorigen Jahren verglich, entdeckte man viele Ähnlichkeiten. Zum Beispiel wurde oft und gerne gefragt, welche Farbe die Stiefel von Kajdaszycha haben. (Kajdaszycha ist eine Figur aus dem klassischen Roman der ukrainischen Literatur, der in der Schule seit Sowjetzeiten gelesen wird.) Natürlich muss man nicht unbedingt den ganzen Text gelesen haben, um die Antwort auf diese hochintelligente Frage zu finden. 

 

Neulich las meine Tochter in ihrer deutschen Schule Der Richter und sein Henker von Friedrich Dürrenmatt. Sie hat lange überlegt, ob sie den Roman lieber auf Deutsch oder auf Ukrainisch lesen soll, dann hat sie sich für die ukrainische Übersetzung entschieden, um den Text besser verstehen zu können. Es war aber genau die falsche Entscheidung. Es stellte sich heraus, dass außer ihr nur noch drei weitere Mitschüler/-innen den Text überhaupt gelesen hatten. Aber gute Noten hatten viele bekommen. Es ging nicht, wie meine Tochter gehofft hatte, um die Kenntnis des Texts. Um die Fragen des Tests beantworten zu können, reichte es vielmehr zu wissen, wie die Protagonisten mit Vornamen heißen und welche Schreibweisen richtig sind: ›Kommissar‹ oder ›Kommissär‹, ›Dürennmat‹ oder ›Dürrenmatt‹.

 

Vor 19 Jahren habe ich Dürrenmatts Der Richter und sein Henker ins Ukrainische übersetzt, vielleicht hätte ich den Test bestanden, vielleicht aber auch nicht. Ehrlich gesagt, ist es mir auch egal, wie Kommissär Bärlach mit Vornamen heißt, weil es nichts zum Textverständnis beiträgt. Genauso ist es mir egal, welche Farbe die Stiefel von Figuren aus klassischen Werken der Weiltliteratur haben. Nicht egal ist mir aber, dass solche Prüfmethoden dazu führen, dass die Musterschüler nicht wissen, wer Rilke war, und noch schlimmer – dass diesen Kindern die Lust am Lesen vergeht. Sie würde mir auch vergehen, wenn ich feststellen sollte, dass es völlig überflüssig ist, für eine gute Note das ganze Buch zu lesen. Oder die Lektüre sogar verwirrend war, weil man ›zu viel‹ wusste und Details nicht genau erinnert.

 

In diesem Kontext denke ich an das kluge Buch von Julian Barnes Flauberts Papagei. Den Vorwurf gegenüber Flaubert, die Augenfarbe von Madame Bovary ändere sich im Laufe seines gleichnamigen Romans, kommentierte Barnes mit ironischen Lachen. Na und, sagt er, ist doch klar, dass die Frau Augen hat – und irgendeine Farbe haben diese Augen. Dass der Autor dieses Detail im Laufe des Erzählens vergisst, macht den Roman nicht weniger aufregend. Und genau das sollten eigentlich unsere Kinder im Literaturunterricht lernen – wie man das Wichtige vom Unwichtigen unterscheidet, und worin die Magie der Literatur besteht. Wenn sie aber vergessen, dass Kommissär Bärlach mit Vornamen Hans heißt, ist das eigentlich nicht schlimm. Viel schlimmer wäre es, bliebe ihnen nur dieses Detail des Romans in Erinnerung.

 

Foto Natalka Sniadanko: Katheryna Slipchenko.

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