Flusseinsamkeiten: Hölderlins ›Ister‹ und ›Nekar‹ im Berlin der Gegenwart bei Tomer Dotan-Dreyfus

Bei Hölderlin heißt es: »Hier aber wollen wir bauen. / Denn Ströme machen urbar / Das Land. Wenn nämlich Kräuter wachsen / Und an denselben gehen / Im Sommer zu trinken die Tiere, / So gehen auch Menschen daran.« 1 Natur- und Kulturgeschichte überschneiden sich in und an Flüssen, ihre kulturelle Bedeutung ist kaum zu überschätzen. Das Getrenntsein vom ›eigenen Fluss‹ 2, über dessen Bedeutung Olga Tokarczuk sinniert, jedoch führt oft zu Momenten von Einsamkeit – von Flusseinsamkeiten.

 

Im Jahr 2020, und das heißt auch: im Hölderlin-Jahr, veröffentlicht Tomer Dotan-Dreyfus in der Literaturzeitschrift Triëdere fünf Gedichte, darunter eins, das den Titel Klammern 3 trägt und sich mit solchen Flusseinsamkeiten beschäftigt. Dotan-Dreyfus ist 1987 in Israel geboren, dort in Haifa aufgewachsen, aber seit 2010 schon lebt er in Berlin. Er ist Autor von Prosa und Lyrik, darüber hinaus auch als freier Autor und Übersetzer tätig. Sein diesjähriger Essay Meine Forschung zum O. Ein literaturwissenschaftlich-philosophisch-theologischer Versuch, Sprache zu verlernen befasst sich unter anderem mit Hölderlin.

 

Es sind nun aber keine israelischen Flüsse, die Dotan-Dreyfus lyrisch aufruft, sondern die Berliner Spree (»Oberbaumbrücke«) und vor allem zwei der Hölderlin-Flüsse: »Nekar« und »Ister« (V. 36). Einsamkeit und Fluss hängen von Beginn des Gedichts an eng zusammen:

 

Du weißt nicht was es heißt
Gem
Einsam
Zu sein bis du die
Sirenen über Ober
Baumbrücke gehört hast und
Dachtest wie laut wie blau wie blaut bis
Du eine Zeitreise getan
Hast und keiner dir glaubt blaute bis
Duden Fluss in dir
In Dir
Empfunden hast
In Dir
Durch Dir (V. 1–14)

 

Aber: Hier ist es möglich, die Einsamkeit hin zur Gem/Einsamkeit – aber doch nicht zu einer die Einsamkeit auflösenden Gemeinsamkeit ohne Enjambement – zu durchschreiten. Die Anleitung dafür liefert das Gedicht gewissermaßen mit: eine Zeitreise, in der man den Fluss nicht nur »In Dir«, sondern »Durch Dir« empfindet. Das grammatikalisch inkorrekte »Dir« ist ein wichtiger Teil des insgesamt sprachspielerischen und -reflexiven Gedichts (»Duden Fluss«). Während der Akkusativ eine Bewegung bezeichne und der Dativ eine »statische Situation also«, meine das lyrische Ich hier nun aber vielmehr eine »statische Bewegung«, die sprachlich nur durch die Zusammenführung und -fügung zweier eigentlich unvereinbarer Kasus erreicht werden kann. In dieser Dopplung heben sich Räumlichkeit und Zeitlichkeit und darin auch die Einsamkeit hin zur Gem/Einsamkeit auf. Aber: Wie kann etwas gleichsam statisch und in Bewegung sein? Einsam und Gem/Einsam? Zumal ein Fluss, bei dem wir gemeinhin von einer Zielgerichtetheit ausgehen, einer klaren ›Route‹ von Quelle zu Mündung? Das lyrische Ich gibt auch auf diese Frage eine Antwort oder Anleitung, in dem es einen literaturgeschichtlichen Vergleich zu Hölderlins Flusshymnen anbietet: »wie der / Nekar wie der Ister«.

Dabei ist die am und im Fluss konkretisierte Sehnsucht nach Verbindendem auch schon bei Hölderlin durchaus mit Ideen von Migration und fruchtbarem Kulturaustausch verbunden. In Der Ister wundert sich das lyrische Ich über die Flussrichtung des Isters, d.h. der Donau: »Der scheinet aber fast / Rückwärts zu gehen und / Ich mein, er müsse kommen / Von Osten“ (V. 41–44). Denn die Donau fließt von Westen nach Osten und damit kulturgeschichtlich gelesen auch von der Moderne in die Antike – also ›falsch herum‹. Hier scheinen sich Natur- und Kulturgeschichte zunächst zu widersprechen. Oder aber: Hier findet eine ›Zeitreise‹ als Flussreise statt, die weit entfernte Länder und Zeiten nicht nur zu trennen, zu vereinsamen, sondern zu verbinden vermag. Und zwar im und durch den Fluss, der nicht nur »In Dir«, sondern vor allem »Durch Dir« fließt, als eine Gem/Einsamkeit zwischen Hölderlin und Dotan-Dreyfus vielleicht.

 

Anna Maria Spener, M.A. (Ruhr-Universität Bochum / FernUniversität Hagen)

 

Beitragsbild: Oberbaumbrücke in Berlin, nach 1902 (Postkarte).

  1. Friedrich Hölderlin, »[Der Ister]«, in: Friedrich Hölderlin, Gesammelte Werke, hrsg. von Hans Jürgen Balmes, Frankfurt a.M. 2008, S. 209–210, V. 15–20.[]
  2. Olga Tokarczuk, »Die Macht der Oder«, in: Wasser. Kafka: Zeitschrift für Mitteleuropa (H. 9) 2003, S. 9–12.[]
  3. Tomer Dotan-Dreyfus, »Klammern«, in: Triëdere. Zeitschrift für Theorie, Literatur und Kunst. Literatur von Nichtmuttersprachlernneni, hrsg. von Ann Cotten (Heft 21) 2020, S. 27–28.[]

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