Mit dem Vortrag ›‘Von Beet zu Beet, von Baum zu Baum‘. Literarische Figurationen kurdischer Diaspora in Ronya Othmanns Die Sommer‹ wird der Blick auf die kurdische Diaspora in Deutschland gerichtet, die in der bisherigen, allen voran literarischen Diasporaforschung deutlich unterrepräsentiert ist. Einen guten Anreiz, dem entgegenzuwirken, bietet der 2020 im Hanser Verlag erschienene Debütroman Die Sommer von Ronya Othmann. Ausgangspunkt der Romanhandlung ist der Genozid des sogenannten Islamischen Staates an der vornehmlich kurdisch-êzîdischen Gemeinschaft in Nordsyrien (Rojava) sowie im (heute) irakischen Shingalgebirge um 2014/15. Im Roman wird nicht nur die durch den Genozid nochmals deutlich verschärfte Diasporisierung der kurdischen Gemeinschaft thematisiert, sondern auch der seit über 100 Jahren währende Linguizid der kurdischen Sprache, insbesondere des Kurmancî-Dialekts, der Schätzungen zufolge weltweit etwa 15 Millionen Sprecherinnen und Sprecher umfasst.
Werden einerseits die Negativwirkungen von Diaspora und Exil literarisch-narrativ exemplifiziert, lassen sich andererseits auch neuere Tendenzen der Kulturforschung an diesem Romanbeispiel nachzeichnen. Die neuere Forschung steht zu großen Teilen unter dem Vorzeichen der Fluidität von Kulturen. Leyla, die Protagonistin von Die Sommer, könnte als Tochter einer deutschen Mutter und eines êzîdisch-kurdischen Vaters, die in Deutschland aufwächst, aber jeden Sommer das kurdische Dorf des Vaters besucht, eine idealtypische transnationale – oder, angesichts der konstitutiven Staatenlosigkeit der Kurd/-innen, transkulturelle – Figur darstellen. Im Roman wird allerdings die vermeintliche Leichtigkeit des Wandelns zwischen (mindestens) zwei kulturellen und sprachlichen Räumen umgestoßen, als der eine durch Bürgerkrieg und Genozid nicht mehr begehbar wird. Damit erlebt die zweite, potenziell mobile Generation eine Beschränkung, die chiastisch zu derjenigen zu lesen ist, die aus ihrer Heimat vertrieben wird.
Drei unterschiedliche Diasporakonfigurationen dreier Generationen in Die Sommer offenbaren unterschiedliche Dialektiken von Grenzüberschreitung und Grenzbeherrschung bzw. begrenzung und werden im Vortrag im Hinblick auf die Aspekte Exil – Diaspora – Transnationalität beleuchtet. Wenn Literatur zur Stabilisierung und gemeinsamen Geschichts- und Mythenbildung, kurz zum kulturellen Gedächtnis einer Gemeinschaft beiträgt, welche Rolle kann sie dann für die Diasporagemeinschaft einnehmen, der sie sich einschreibt und die sie gleichzeitig schreibend miterzeugt?
Nursan Celik (Universität Münster), Hevin Karakurt (Universität Basel)
Tagungsprogramm: https://www.dla-marbach.de/fileadmin/redaktion/Forschung/Tagungsprogramme/Programm_Einsamkeitsreflexionen_2022-10-03.pdf
Beitragsbild: Verlag