Femina melancholica aus Czernowitz

Olha Kobylanska kennt man heute in Deutschland kaum, obwohl sie in der Ukraine zu den bekanntesten Schriftstellerinnen ihrer Generation gehört und obwohl sie einen engen Bezug zur deutschen Kultur hatte. Am 27. November 1863 in Czernowitz geboren, stammte Olha väterlicherseits aus einer ukrainischen, mütterlicherseits aus einer polnisch-deutschen Familie. Ihr Vater war ein kleiner k.u.k Beamter, der für sieben Kinder sorgen musste. Es herrschte stets Geldmangel, weswegen nur die Söhne eine Ausbildung bekamen und Olha Autodidaktin blieb. Die Familie zog oft um, wohnte in den südbukowinischen Städten Suczawa und Kimpolung, später im nordbukowinischen Dorf Dymka, ab 1891 in Czernowitz.


Zuhause sprach Olha Deutsch, ihre ersten Texte publizierte sie auf Polnisch. Dann aber entschied sie sich, auf Ukrainisch zu schreiben und blieb dabei konsequent bis zu ihrem Lebensende. Sie starb am 21. März 1942 in Czernowitz. Die ehemalige Herrengasse, die zentrale Straße in Czernowitz, trägt heute ihren Namen.


Olha Kobylanska ist eine sehr ungewöhnliche Figur in der ukrainischen Literatur, nicht nur aufgrund ihrer Entscheidung, auf Ukrainisch statt auf Deutsch zu schreiben, was schon damals wenig karriereorientiert war. Nichtdestotrotz wurde Olha Kobylanska zu einer der bedeutendsten ukrainischen Schriftstellerinnen. Ungewöhnlich ist vieles an ihr.

»In der ukrainischen Literaturlandschaft spielt Olha Kobylanska nur eine marginale Rolle. Das ist kein Zufall, obwohl sie im Laufe des 20. Jahrhunderts oft im Zentrum der kulturellen und wissenschaftlichen Diskussionen stand und ihre Texte von bekannten Kritikern und Soziologen diskutiert wurden. Sprachliche, kulturelle und geschlechtliche Identität machten Olha Kobylanska zu einer Ikone des Modernismus und sorgten zugleich für eine bestimmte marginale Identität. Das zentrale Thema ihres Schaffens ist das Überschreiten von Grenzen des dominanten Diskurses und der traditionellen Ausdrucksweise. Die Biografie der Schriftstellerin wurde zum Modell ihrer feministischen Erzählweise, und das weibliche ›Ich‹ wurde zum Hauptthema ihres Schreibens. Dieses weibliche ›Ich‹ ist entscheidend auch für die Interpretation und das Verstehen der Rolle von ›anderen‹ in der modernen Kultur. Kobylanska analysiert die Rolle der Frau in der patriarchalen Kultur und liefert eine neue Interpretation dieser Rolle im Gegensatz zu den traditionell patriarchalisch definierten Frauenpflichten.« Das schreibt die ukrainische Wissenschaftlerin Tamara Hundorowa über Olha Kobylanska in ihrem Buch Femina melancholica. Der Titel des Buches errinnert ein eine bekannte Novelle von Kobylanska Valce melancolique.


Es gab nicht viele Frauen in der ukrainischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Aber nicht nur das machte Kobylanska besonders. Ihr gelangen radikale Erneuerungen der ukrainischen Literatur sowohl in stilistischer wie auch thematischer Hinsicht. In ihren Texten gibt es viel Autobiografisches, was damals völlig unüblich war und oft auf Kritik stoß. Autobiografisches in der Literatur galt als Merkmal schlechten Stils. Kobylanska aber beschreibt nicht nur tabuisierte individuelle Erfahrungen, sondern traut sich sogar über weibliche Sexualität zu schreiben. Die Frauen in ihren Texten sorgen sich um ihre Selbstverwirklichung, sie wollen aktiv und nützlich für das eigene Land sein. Das war ein völlig anderes Frauenbild als das bis dahin übliche. Das Glück der Frau beschränkt sich in Texten von Kobylanska nicht ausschließlich auf das häusliche Milieu, ihre Protagonistinnen trauen sich, individuelle Entscheidungen zu treffen, anders als die Tradition es vorschreibt. Kobylanska folgt nicht dem damaligen Trend, das idyllisch romantisierte Dasein des Volkes zu beschreiben – was ihr oft als Defizit vorgeworfen, nicht als Leistung gewürdigt wurde. Am meisten aber empörten sich die männlichen Kollegen über ihre These, dass »die Frau ein Ziel für sich ist« und die wirkliche Rolle der Frau in ihrer Selbstverwirklichung in der Kultur besteht. »Es ist schlicht unmöglich«, so schrieben manche Kritiker. Andere waren im Gegensatz dazu begeistert und äußerten sich enthusiastisch über diese starke Stimme in der ukrainischen Literatur.


Ihre bewusste Entscheidung, Ukrainisch zu schreiben, war nicht nur ungewöhnlich, sie entsprach auch ihrer Überzeugung vom Recht der Frauen auf die freie Wahl ihrer Identität. Das widersprach der traditionellen Sicht, dass Gesellschafts- und Geschlechterrollen samt sprachlicher Identität zu den angeborenen Eigenschaften gehören und dabei keine freie Wahl zulassen.


Die Realität in Bezug auf Sprachen in Czernowitz war damals anders als heute. Ukrainisch war zwar nicht wie in Russland verboten, aber auch in der k.u.k. Monarchie war die ukrainische Literatur eine sogenannte ›kleine Literatur‹ unter der Vorherrschaft einer ›großen‹ Literatur. Die sprachliche Vielfalt erlaubte Kobylanska, die Sprache für ihr Schreiben frei zu wählen, wodurch sie sich in Opposition zu den damaligen Gesellschaftsidealen befand.


Kobylanska publizierte in den 1890er-Jahren auf Deutsch, vor allem in der Presse, in Neue Zeit, Neue Revue, Vorwärts und Gesellschaft. Sie las die Neue Deutsche Berliner Rundschau. In Deutschland wurden ihre Texte sehr positiv aufgenommen. Sie übersetzte nicht nur ihre eigenen Texte ins Deutsche, sondern auch Texte anderer ukrainischer Schriftsteller. Dabei war ihre Auswahl sehr streng, sie übersetzte nur solche Texte, die den neusten europäischen literarischen Tendenzen entsprachen, und vermied schwächere und ›zu süße‹ romantische Texte. Sie schrieb auch Vorworte zu Ausgaben, um die ›kleinrussische‹ Literatur dem europäischen Publikum vorzustellen. Sie las die neusten Übersetzungen ins Deutsche und wurde dadurch mit den neusten Werken der modernen Weltliteratur vertraut. Auch russische Literatur kannte Olha Kobylanska dank der deutschen Übersetzungen (unter anderem las sie Tolstoj und Dostojewskij auf Deutsch).


An ihrem Beispiel kann man gut sehen, wie manipulativ die Sprachpolitik des russischen Imperiums damals war. Der Begriff ›kleinrussische Sprache‹ oder noch abwertender ›kleinrussischer Dialekt‹ war im damaligen Russland üblich. Man wollte damit behaupten, dass das Ukrainische keine selbständige Sprache ist, sondern nur ein Dialekt des Russischen. Die ukrainische Sprache wurde im Russischen Imperium per Gesetz verboten. Zumindest im offiziellen Leben. So musste jeder Ukrainer Russisch lernen. Diese Sprachpolitik wurde von der Sowjetunion übernommen, dort behauptete man genauso, dass es kaum Unterschiede zwischen Ukrainisch und Russisch gäbe. Sehr schade, dass Olha Kobylanska davon nichts wusste, denn dann hätte sie Tolstoj und Dostojewskij doch gleich im Original lesen können anstatt in der deutschen Übersetzung.


Beitragsbild

Foto Natalka Sniadanko: Katheryna Slipchenko.

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