Johannes Kabis, »ein artiger Mann von bald vierzig Jahren«, ist unzufrieden mit seinem Nachnamen, der hochdeutsch schlicht ›Kohlkopf‹ bedeutet. Getreu seiner Überzeugung, »dass jeder der Schmied seines eigenen Glückes sein müsse, solle und könne, und zwar ohne viel Gezappel und Geschrei«, übersetzt er seinen Namen ins Englische und erhofft sich als John Kabys ein erfolgreicheres Dasein. So wandelt er auch auf Freiersfüßen, »ausgerüstet mit allen seinen Attributen«:
»Diese bestanden in einer vergoldeten Brille, in drei emaillierten Hemdeknöpfen [sic], durch goldene Kettchen unter sich verbunden, in einer langen goldenen Uhrkette, welche eine geblümte Weste überkreuzte, mit allerlei Anhängseln, in einer gewaltigen Busennadel, welche als Miniaturgemälde eine Darstellung der Schlacht von Waterloo enthielt, ferner in drei oder vier großen Ringen, einem großen Rohrstock, dessen Knopf ein kleiner Operngucker bildete in Gestalt eines Perlmutterfässchens. In den Taschen trug, zog hervor und legte er vor sich hin, wenn er sich setzte: ein großes Futteral aus Leder, in welchem eine Zigarrenspitze ruhte aus Meerschaum geschnitzt, darstellend den aufs Pferd gebundenen Mazeppa; diese Gruppe ragte ihm, wenn er rauchte, bis zwischen die Augbrauen [sic] hinauf und war ein Kabinettsstück«.
»Lieber wäre er verhungert, als dass er das geringste seiner Zierstücke veräußert oder versetzt hätte; so konnte er weder vor der Welt, noch vor sich selbst für einen Bettler gelten und lernte das Äußerste erdulden, ohne an Glanz einzubüßen. Ebenso war, um nichts zu verlieren, zu verderben, zu zerbrechen oder in Unordnung zu bringen, eine fortwährend ruhige und würdevolle Haltung geboten. Kein Räuschchen und keine andere Aufregung durfte er sich gestatten, und wirklich besaß er seinen Mazeppa schon seit zehn Jahren, ohne dass an dem Pferde ein Ohr oder der fliegende Schweif abgebrochen wäre, und die Häkchen und Ringelchen an seinen Etuis und Necessaires schlossen noch so gut als am Tage ihrer Schöpfung.«
Als Kellers Der Schmied seines Glückes zu Weihnachten 1873 im Rahmen des Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla erschien, konnte sich der geneigte und gebildete Leser ein Schmunzeln gewiss nicht verkneifen. Der Schweizer (Spieß-)Bürger erzeugt seinen blauen Dunst ausgerechnet mit einer Pfeife, die Iwan Stepanowitsch Masepa (Mazeppa, ukrainisch Іван Степанович Мазепа) zeigt, den Hetman der ukrainischen Saporoger Kosaken.
Mazeppa war zunächst Verbündeter des russischen Zaren im Großen Nordische Krieg, der im März 1700 mit dem Angriff des Russische Zarenreich und der beiden Personalunionen Sachsen-Polen und Dänemark-Norwegen auf das Schwedische Reich begann. Als Zar Peter I. im Herbst 1707 den Aufstand der Kosaken und Bauern im Don-Gebiet gegen die Zarenherrschaft brutal niederschlug, wechselte Mazeppa die Seiten. Er versprach dem Schwedenkönig Karl XII. Unterstützung, wenn die Schweden sich für eine freie Ukraine einsetzen würden. Gegen den Rat seiner Generäle marschierte Karl XII. daraufhin in der Ukraine ein. Als Antwort auf Mazeppas Frontwechsel zerstörte die russische Armee die Hetmans-Hauptstadt Baturyn bis auf die Grundmauern, 6000 Einwohner und Verteidiger wurden dabei getötet, auch Frauen und Kinder.
Nun war klar: Wer mit der Sache Mazeppas sympathisierte riskierte sein Leben, zudem befahl der Zar jenen Kosakenältesten, die sich Mazeppa nicht angeschlossen hatten, einen neuen Hetman zu wählen. Mazzeppa verlor seine Anhängerschaft, die sich einerseits vor den drakonischen Strafen der Russen fürchtete und andererseits den protestantischen Schweden nicht traute. Auf Befehl des Zaren baumelte Mazeppas Bildnis am Galgen, die Russisch-Orthodoxe exkommuniziert ihn. Nach der katastrophalen Niederlage der Schweden bei der der Schlacht von Poltawa am 8. Juli 1709 flohen der schwedische König, seine restlichen Soldaten und Mazeppa, der am 22. September 1709 auf osmanischem Gebiet starb.
In der russischen Geschichtsschreibung gilt Mazeppa als Prototyp des Verräters, im national-ukrainischen Narrativ ist er eine identitätsstiftende Heldenfigur.
Aber was hat das alles mit dem » aufs Pferd gebundenen Mazeppa« von Johannes Kabis’ Zigarrenspitze zu tun? Bereits 1731 berichtet Voltaire vom jungen Mazeppa und seiner Affäre mit einer Aristokratin. Als deren Ehemann von diesem Verhältnis erfährt, lässt er Mazeppa aus Rache nackt auf den Rücken eines Pferdes binden, das er in die Wildnis treibt. Irgendwann bricht das Tier unter ihm tot zusammen, den halbtoten Mazeppa finden Kosaken und pflegen ihn gesund.
Maler, Musiker und Schriftsteller im 19. Jahrhundert waren fasziniert von diesem Helden und seinem Schicksal. Franz Liszt komponierte die sinfonische Dichtung Mazeppa, die gleichnamige Oper von Peter Tschaikowsky basiert auf einer Dichtung von Alexander Puschkin. Lord Byrons Versdichtung Mazeppa erschien 1819 und wurde im späteren 19. Jahrhundert zwei Mal ins Deutsche übersetzt. Und noch durch Verse von Rilke und Brecht geistert der Name ›Mazeppa‹.
Mazeppa, der ukrainische Kosakenhetman (1639–1709), ist schwer zu fassen – eine historische Gestalt und fiktive Figur im Spiel der Ideologien und Künste, je nach Perspektive Schurke oder Held. Für Gottfried Kellers John Kabys ist der zur Strafe für seine Leidenschaft auf wildes Pferde gebundene Kosake lediglich figürlicher Zierrat seiner Zigarrenspitze. Was für ein entlarvender Kontrast zum biederen Besitzer des Rauchutensils, dessen Heiratspläne nur einem erhofften Vermögen gelten – und dem wohl kaum einmal die Gäule durchgehen. Dabei könnte ja die Zigarrenspitze zu Bruch gehen …
Beitragsbild: Théodore Géricault, Der Page Mazeppa. Öl auf Leinwand, um 1820.