Was sollen die russischen Intellektuellen jetzt tun? Sie sind in einer schwierigen Situation – einerseits werden sie gehasst, weil ihr Land Krieg führt, andererseits sind sie selbst in Gefahr, weil sie in einem totalitären Land leben.
Es ist diese Frage, die zurzeit vielleicht am meisten nervt. Vor allem die ukrainischen Intellektuellen fühlen sich angegriffen, wenn sie dergleichen gefragt werden. Trotzdem hört man diese Frage ständig. Es ist mir noch nie passiert, dass irgendeine Diskussion im Ausland über ukrainischen Angelegenheiten ohne Russland-bezogene Fragen stattfand. Selbst jetzt, wo Russland die Ukraine ständig bombardiert, wird man diese Fragen nicht los. Ich wünsche russischen Intellektuellen, dass auch sie ständig mit solchen Fragen konfrontiert werden – was sollen jetzt die Ukrainer tun, die kein Zuhause mehr haben, deren Verwandten nicht mehr leben, die jede Nacht mit Angst aufwachen, dass schon wieder etwas Schreckliches passiert ist. Und es passieren jede Nacht eine Menge schrecklichen Dinge.
Ich habe eigentlich keine Antwort auf die Frage, ich weiß nur, was wir Ukrainer getan haben, als wir noch in einem totalitären Land lebten, das uns das Leben schwer gemacht hat, weil es stark russifiziert und gegen jede ukrainische Kultur war.
Im Oktober 1990 habe ich im ersten Semester in Lviv ukrainische Philologie studiert. Das Jahr 1990 war etwas ganz besonderes für die ukrainische Philologie. Früher war das Fach nicht besonders populär, weil man nicht wirklich einen sozialen Aufstieg mit diesem Beruf verbinden konnte. Um Karriere machen zu können, musste man in der Sowjetunion Russisch sprechen. Und dementsprechend waren die Studienplätze verteilt – für die russische Philologie gab es doppelt so viele wie für die ukrainische.
Im Jahre 1990 war die Anfrage für die ukrainische Philologie hoch wie noch nie zuvor und nie mehr danach. Man hat schon verstanden, dass die Sowjetunion nicht mehr lange zu leben hat, und glaubte, in der Zukunft wird die Ukraine unabhängig und überwiegend ukrainischsprachig sein. Auf diese Zukunft warten wir immer noch, wobei die Zahl der Student/-innen der russischen Philologie seitdem deutlich geringer geworden ist – es ist kein sozialer Aufstieg mehr mit diesem Beruf verbunden. Immerhin.
Im Oktober 1990 fand meine erste Revolution statt. Revolution auf dem Granit. Studentische Hungerstreiks. Wir junge Mädchen durften nicht hungern, aber auch studieren wollten wir nicht. Wir hockten die ganze Zeit neben den hungernden älteren Kollegen und machten uns nützlich.
Die Ukrainisierung der russifizierten Ukraine, die 1991 endlich unabhängig wurde, dauert immer noch an. Die große Nachfrage in Bezug auf ukrainische Sprache und Kultur erwarten wir immer noch vergeblich. Lange Zeit nach der Unabhängigkeit führte die ukrainische Kultur einen harten Kampf ums Überleben. Den Buchmarkt ruinierten aus Russland importierte Bücher, im Fernsehen liefen Seifenopern aus russischer Produktion, im Radio konnte man überwiegend nur russische Schlagermusik hören. Es wurden andauernd Diskussionen geführt, ob es überhaupt funktionieren könnte, wenn man Weltbestseller ins Ukrainische übersetzte. Wir haben geschrieben, übersetzt, diskutiert. Ohne Honorare, ohne staatlichen Subventionen, rein ehrenamtlich. Russische Kultur wurde aber reichlich unterstützt und weiterhin fleißig antiukrainische Propaganda betrieben. Im guten alten sowjetischen Stil. Und niemand stellte Fragen, wie die ukrainischen Intellektuellen in dieser schwierigen Situation überleben sollten.
2004, zur Zeit des Maidan-Aufstands, war mein Sohn fast ein Jahr alt. Ich blieb mit ihm zu Hause, und mein Mann fuhr nach Kyjiw. Wir wussten nicht, ob er zurück kommt und was passieren wird.
2014, während des Euromaidan-Aufstands, waren meine Kinder 10 und 6 Jahre alt. Wir fuhren abwechselnd nach Kyjiw und wussten jedes Mal nicht, ob wir zurückkommen würden und was passieren wird.
Jetzt sind meine Kinder 18 und 14 Jahre alt. Mein Mann ist freiwillig zum Militärdienst gegangen. Meine Kinder und ich sind hier in Marbach und wir wissen nicht, wann wir nach Hause gehen und ob wir dort noch ein Zuhause finden können.
Wie lange soll es alles noch dauern? Und warum wird weiterhin nur nach der schwierigen Lage der russischen Intellektuellen gefragt und was sie tun sollen? Eins weiß ich aber sicher: Wenn man nichts tut und nur über die Schwierigkeit der Lage diskutiert, wird sich nichts ändern.
Beitragsbild
Foto Natalka Sniadanko: Katheryna Slipchenko.