Joseph Viktor von Scheffel war einer der heute weitgehend vergessenen Stars der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Sein Versepos Der Trompeter von Säckingen wurde in unzähligen Auflagen verbreitet, Victor Ernst Nesslers gleichnamige Oper wurde 1884 in Leipzig uraufgeführt. Die Arie »Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen« hat über Generationen zu Tränen der Rührung verholfen. Scheffels Roman Ekkehard. Eine Geschichte aus dem 10. Jahrhundert war ebenfalls ein Bestseller, noch Johannes Grützke hat ihn im Jahr 2000 illustriert.
Die Melodie zu Scheffels Festlied zur Gründungsfeier der Universität Czernowitz stammt aus der Feder des Niederösterreichers Rudolf Weinwurm. Scheffels repräsentatives Gedicht verwendet – wie bei solchen Anlässen üblich –Antiken-Anspielungen und Personifikationen. So ist der Pruth (rumänisch Prut; ukrainisch, russisch Прут, lateinisch Pyretus) aus dem ersten Vers mit 953 km der zweitlängste Nebenfluss der Donau.
Joseph Viktor von Scheffel
Festlied zur Gründungsfeier der Universität Czernowitz
Oktober 1875.
Verwundert hebt der Pruth im Schilf
Sein Haupt, das flutumschwemmte,
Denn hoch zu Roß, im Frührotschein
Naht eine hohe Fremde:
Einst ehrten Griechenland und Rom
Die Himmlische, die Muse;
Jetzt hält sie vor des Ostens Strom
Und hebt die Hand zum Gruße!
Glückauf, mein bergschön Buchenland,
O Cäcina, wie glühst du!
Ich komme mit dem Morgenrot,
Hauptstadt am Pruth, nun blühst du!
Ich bring’ euch, wie Aurora, Licht,
Denn Finsternis tut Schaden;
Ich bringe Licht und fürchte nicht
Die Wölfe der Karpathen.
Ihr sollt mit Gott- und Weltweisheit
Des Schöpfers Lob bekunden,
Als Richter üben Gerechtigkeit,
Als Ärzte heilen die Wunden:
Und jugendfrisch mit Hall und Schall
Den freien Künsten dienen,
Sangfröhlich wie die Nachtigall,
Treufleißig wie die Bienen.
Schau auf, schon zieht und braust daher,
An deinem Ufer zu wohnen,
In vollem Wichs mein flottes Heer
Mit Koller und Kanonen,
Ruthenisch, deutsch, rumänisch Blut
Vielzüngig miteinander!
Und staunend hört der Vater Pruth
Den ersten Salamander:
»Heil dir, gewaltig Österreich,
Heil Wissen dir, im Osten,
In Sprachen bunt, im Geiste gleich
Ziehn wir am Pruth auf Posten:
Nun blühe, jüngster Musensitz,
Francisco-Josephina!
Frau Muse lehrt in Czernowitz
Und schirmt die Bukowina!«
Beitragsbild: Das Hauptgebäude der Universität in der Zeit zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg.