Noten vom Kuschelpol

Ein Kunde will sich eine Hose machen lassen und wird dann vom Schneider wegen ständiger Missgeschicke immer wieder vertröstet. Nach drei Monaten des Zauderns und der Verzögerungen fragt der verärgerte Kunde, wie Gott die Welt – die Welt! – in sechs Tagen erschaffen habe, wenn der Schneider nicht einmal eine Hose in drei Monaten fertigstellen könne. Woraufhin dieser antwortet:

 

But my dear Sir, my dear Sir, look –
(disdainful gesture, disgustedly)
– at the world –
(pause)
and look –
(loving gesture, proudly)
– at my TROUSERS!1

 

Mit welchen Problemen die Literaturwissenschaft auch immer konfrontiert sein mag, ihr geht es mindestens so gut wie der Hose. Stattdessen ist es die Welt, die zunehmend abhanden zu kommen droht. Leider lässt jedoch der beschädigte Zustand der Welt die Literaturwissenschaft heute nicht besser aussehen. Deshalb ist die in der Fragestellung implizierte Fokussierung auf die Literaturwissenschaft als bedrohte Fachdisziplin abgelöst von ihrem gesellschaftlichen Kontext tendenziös (im Gegensatz zum Jahr 1998, als es um ihren ›Gegenstand‹ ging.2 Die Frage betrifft weniger die Disziplin als ihre Relevanz. Und während es immer einiges gibt, was man tun kann und soll, um das Fach zu verbessern, sollte das Erhöhen seines Ansehens nicht die Motivation sein. Denn die Überwindung der gesellschaftlichen Entwicklungen, die derzeit die Literaturwissenschaft mit Bedeutungslosigkeit bedrohen, ist eine Aufgabe, die Generationen von politisch-ökonomischer (mehr als literaturkritischer) Arbeit verlangt.

 

Das macht den Beitrag von Moritz Baßler zu dieser Debatte so interessant. Denn ihm geht es nicht um Relevanz, sondern um die ›Disziplinarität‹ der Literaturwissenschaft. Wenn wir nicht auf der Literaturwissenschaft beharren, so die von Baßlers Argument implizierte Frage, welche Möglichkeiten bleiben dann noch übrig, um eine akademische Disziplin zu rechtfertigen? Literaturwissenschaft, soweit wird man Baßler recht geben, muss mehr als ein gehobener Buchklub zum Austauschen von ›Likes‹ und Meinungen sein. Aber so sehr ich Baßlers einleitende Tirade gegen den Kuschelpol des Unterbrechungsdiskurses und das anschließende Lob der Kontinuität auch befürworte, so sehr muss man doch einräumen, dass es sich dabei letztendlich um ein Ablenkungsmanöver handelt. Nein, auf dem Spiel steht tatsächlich all das, was Johannes Franzen, Julika Griem und andere in ihren jeweiligen Beiträgen elegant darlegen, wenn sie (stellvertretend) die Arbeit von Rita Felski hervorheben – jener Rita Felski, die für Baßler zum »anti-intellektuellen Kitsch« (S. 390) gehört, der sich in den Reihen unserer Wissenschaft breit gemacht habe: Diskurse zu Affekt, Emotion, Identifikation, Bindung,  Positionalität. All dies führe, laut Baßler, zur Bevorzugung von Texten, die »immer schon ziemlich genau mit dem übereinstimmen, was man ohnehin schon kennt, liebt und glaubt« (ebd.). In solchen Fällen sei die Literaturwissenschaft in der Tat abhandengekommen.

 

Baßlers Felski-Zitat (eingebettet in ein Zitat von Amy Hungerford) ist jedoch schlecht gewählt, und wenn man es im Kontext ihres Buches liest, ist es alles andere als anti-intellektueller Kitsch. Eigentlich äußert Felski ähnliche Bedenken: »the literary text is hauled in to confirm what the critic already knows, to illustrate what has been adjudicated in other arenas. My intent is […] to ask what is lost when we deny a work any capacity to bite back, […] to challenge or change our own beliefs and commitments.«3 Nichtsdestotrotz ist Baßler auf der richtigen Spur: Sein Beitrag ist der einzig polemische, und vielleicht brauchen wir heute mehr polemischen Elan. Die alten ›theory wars‹ (jedenfalls in den USA) zwischen Frankreich und Frankfurt mögen heute überholt erscheinen, aber zumindest gab es einmal die Überzeugung, dass das, was wir tun, wirklich von Bedeutung ist. Es ging um etwas. Heute stecken wir in der Malaise der Suche nach Relevanz und nach besseren Studierenden fest. Baßler hingegen holt zum Schlag aus. Zugegeben: Wenn er sich auf die Wissenschaft, die Komplexität, die Verweishölle und (der coup de grace) David Foster Wallace (DFW) stürzt, fühle ich mich wie der Teilnehmer an der von ihm parodierten Kafka-Konferenz – »Wehe, die erwartbaren Keywords stellen sich nicht ein!« (S. 391) –, aber nicht, weil ich für solche Forderungen kein Verständnis hätte, sondern, im Gegenteil, weil es sich allzu sehr wie ein intellektueller Kuschelpol anfühlt, gegen den Baßler polemisiert. Ich bin von mir selbst gelangweilt, während ich zustimmend nicke. Selbst wenn ich die Erfahrung der Reibung zwischen Lebenswelt und literarischem Text bevorzuge, muss ich anerkennen, dass ein reflexives Insistieren auf ›Komplexität‹ seine eigene Dimension der Selbstverständlichkeit beinhaltet.

Wenn die öffentliche Bedeutung der Literaturwissenschaft nicht mehr selbstverständlich ist, dann ist es nicht abwegig zu fragen, warum Menschen überhaupt weiter Literatur lesen. Und wenn die Antworten nicht auf dieselben vermeintlich körperlosen Leser/-innen verweisen, die zufällig dieselben Bücher mögen wie ich, umso besser. Seien wir ehrlich: Wenn Studierende heute keinen Zugang zu einem Jean-Paul-Roman finden, dann mag das weniger an verkürzten Aufmerksamkeitsspannen und sozialen Medien liegen als daran, dass der Luxus einer langwierigen Auseinandersetzung mit einem schwierigen Text immer seltener zu haben ist. Die Studierenden haben andere Sorgen – die Welt, die der Literaturwissenschaft so wenig Wert beimisst, lässt nichts und niemanden unbeschädigt. Sie wissen, dass sie mit dem Rücken zur Wand stehen. Selbst DFW kann sie nicht retten.

 

Paul Fleming (Cornell)

 

Beitragsbild: Löschblatt von Gertrud von Le Fort.

  1. Samuel Beckett, Endgame and Act without Words, New York, 2009. []
  2. ›Kommt der Literaturwissenshaft ihren Gegenstand abhanden?‹, in: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft, Bd. 42, Stuttgart 1998. []
  3. Rita Felski, Uses of Literature, Massachusetts 2008, S. 7. []

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