In der von Martin Buber in feines Deutsch übertragenen Erzählung des Zhuangzi (ca. 369–286 v. Chr.) fragt der Gesprächspartner des Daoisten im provokanten Ton:
»Herr, ich habe einen großen Baum von einer wertlosen Art. Sein Stamm ist so uneben und knorrig, daß er nicht zu Brettern taugt, und seine Äste sind so gewunden, daß sie keine Nutzteilung zulassen. Er steht an der Landstraße, aber kein Zimmermann sieht ihn an. Eure Worte, Herr, sind wie dieser Baum: groß und nutzlos, von keinem gebraucht.«
Daraufhin erwidert Zhuangzi gelassen:
»Habt Ihr einen großen Baum und wißt nicht, was Ihr damit beginnen sollt – warum pflanzt Ihr ihn nicht in die einsame und schattenlose Wildnis? Da könnet Ihr müßig zu seinen Füßen schlendern oder im Genusse ungestörten Behagens in seinem Schatten schlafen. Da brauchte keiner an Beil und Axt zu denken; da wäret Ihr mit ihm jenseits von Nutz und Schaden.«1
Das Bild des großen Baums, der gerade wegen seiner Deformation Widerstand gegen die normierende Disziplinierung mit Beil und Axt leisten kann, lässt sich ohne Schwierigkeiten mit der Vorstellung von Literatur als Disruptionsmedium und von Literaturwissenschaft als »eine dem Prinzip Störung verpflichtete Denk-, Forschungs- und Interventionseinrichtung«2 vereinbaren. Vergleichbar ist auch die Entschärfung der offen geäußerten Skepsis hinsichtlich der Nützlichkeit, welche durch die Verlagerung des Fokus auf das, was »jenseits von Nutz und Schaden« liegt, geschieht. Erst wenn man die Literatur und deren Forschung und Lehre vom Legitimationszwang der Marktlogik des direkten Return of Investment der Wissenschaftsverwaltung befreit, kann sich eine kulturelle sowie epistemologische Leistungsfähigkeit entfalten, welche die Zukunftsfähigkeit dieser Disruptionswissenschaft angesichts der vielfältigen und komplexen Herausforderungen der Gesellschaft ermöglicht. Die uralte chinesische Weisheit entspricht so gesehen einer Vision der selbstbewussten und -vertrauten Literaturwissenschaft, die für alle Mitglieder der sich dazu berufen fühlenden akademischen Gemeinschaft jedenfalls wünschenswert ist.
Allerdings liegt die Ambition der Disruption doch weit entfernt von der von Zhuangzi beschworenen, nach einem selbstgefälligen Eskapismus klingenden, Müßiggang in der einsamen Wildnis. Die Außenseiterhaltung einer Bildungselite ist angesichts der heutigen Wissens- und Mediengesellschaft nicht nur obsolet, sondern schlicht unmöglich. Wenn die Selbstbehauptung und -bestimmung der Literaturwissenschaft in Gestalt einer Disruptionswissenschaft die sogenannte Krise der Germanistik überwinden will, muss statt eines Rückzugs eine Zuwendung zum immer enger vernetzten Bezugssystem aus Gesellschaft, Technik, Wissenschaft, Medien und Kultur erfolgen. Eine Möglichkeit wäre es, wie es Lars Koch trefflich konstatiert, die textanalytische und -kritische Kompetenz in Richtung Krisenanalyse und Kulturkritik im Allgemeinen offensiv und sichtbar einzusetzen. Beispiele dafür findet man in den kapitalismuskritischen Schriften des auch von Koch genannten Joseph Vogl.
Andererseits stellt sich trotzdem die Frage, wie die genuine Beschäftigung mit der Literatur im engeren Sinne bei den Literaturwissenschaftler/-innen weitergeführt wird, die nach Jahrzehnten fachinterner Debatten über interdisziplinäre Kulturwissenschaften, die Renaissance der Philologie bzw. Hermeneutik und den Aufschwung der Digital Humanities immer noch nach Orientierung und Erneuerung sucht. Hier geht es nicht um die Anwendung der in der Literaturwissenschaft geschulten Fachkompetenzen zur engagierten und kritischen Mitgestaltung von zeitrelevanten Diskursen. Vielmehr wird eine selbstständige, aber auch zeitgemäß perspektivierte, Entwicklung von Herangehensweisen erwartet, die neue Erkenntnishorizonte über die, wie auch immer definierten, literarischen Texte eröffnen können. Der Wandel des Kontextes der Forschung und Lehre in unserem digitalen, multimedialen, globalen, diffusen und krisenhaften Zeitalter kann neben Herausforderungen auch Impulse geben. Die konkrete Umsetzung der Impulse in der wissenschaftlichen Produktion kann und soll ganz verschieden modelliert sein. Ein Blick auf die aktuellen Forschungsarbeiten zu Goethe in der chinesischen Germanistik kann diese Vielfältigkeit verdeutlichen. Beispielsweise hat GU Yu, Professorin an der prominenten und traditionsreichen Peking-University, zahlreiche eingehende philologische Faust-Untersuchungen im Rahmen ihrer neuen kommentierten Faust-Übersetzung publiziert und dabei die für das heutige China hochinteressante Modernitätsproblematik in der vormodernen Projektion präzise dargelegt. Ebenfalls erwähnenswert sind die Studien zu den beiden Wilhelm-Meister-Romanen von FENG Yalin, Professorin an der Sichuan International Studies University, die sie aus Perspektive von Kulturgedächtnis und Intermedialität durchgeführt hat, und damit die kulturwissenschaftlich orientierte Schule der germanistischen Forschung in China vertritt. Die gemeinsam mit Professor Heinrich Detering verfasste zweisprachige Doppel-Publikation von Professor TAN Yuan von der Huazhong University of Science and Technology in Wuhan stellt wiederum ein internationales Musterbeispiel für die Goethe-Forschung mit China-Bezügen dar, wodurch die traditionelle Stärke der Auslandsgermanistik in der Rezeptionsforschung durch internationale Zusammenarbeit hinsichtlich der Textinterpretation noch mehr Präsenz und Ansehen in Deutschland und China erhält. So wird der alte Horizont des Goethe-Verständnisses auf unterschiedliche Weise durchbrochen. Hierin lässt sich eine konstruktive Disruptionswissenschaft mit Dynamik feststellen, die von der Weiterexistenz der Literaturwissenschaft zeugt. Jenseits von Nutzen und Schaden.
Shuangzhi Li (Shanghai)
Beitragsbild: Löschblatt von Gertrud von Le Fort.