Solange es gelesen wird

»Ich bin ein Leser«, so stellte sich der nachmalige Präsident der Darmstädter Akademie Ernst Osterkamp bei seiner Aufnahme in die nämliche Institution vor. In der Tat lebt Literatur davon, gelesen zu werden, und die Literaturwissenschaft davon, dass ein wissenschaftliches, d. h. problemorientiertes, philologisch begründetes und argumentativ nachvollziehbares Lesen der Literatur möglich ist. Ein Lesen jedoch, das selbst ihren Verfechtern nicht mehr selbstverständlich scheint. Katechismen werden diktiert, Apologien verfasst, nur um das Fach wieder glaub- und studierwürdig zu machen. Das Kernanliegen dabei: Die Literaturwissenschaft als eine, wenn nicht moralische, so doch gesellschaftliche Anstalt zu betrachten, die sich keck in diverse öffentliche Debatten einmischt, interventionslustig, anschlussfähig, relevant. Wo aber, würde ich als Leser fragen, bleibt die Literatur?

Klar, die Literaturwissenschaft ist eine Rechtfertigungskunst. Aber sie rechtfertigt nicht sich selbst, sondern die Literatur. Sie nimmt sie in Schutz, wenn andere diesen nutzlosen und blasphemischen Quark ins Feuer werfen wollen. Gerade in der Hektik der Gegenwart, wo selbst den Musen keine Muße beschert wird, bedarf das Lesen einer starken Verteidigung. Stark deswegen, weil hier unabhängig von allen quantitativen Maßstäben ein qualitatives, definitives Urteil in einer nicht nur geschmacklich hochpluralisierten Welt gewagt wird: dass es auch Werke gibt, die immer wieder neu zu lesen es sich unbedingt lohnt – oder um mit Calvino zu sagen: dass es noch Klassiker gibt.

Gewissermaßen lebt ein Literaturwissenschaftler ein Bürger derer, welche vergangen sind. Wie ein Museumsführer begleitet er seine Mitleser in die Schatzkammer der Ewig-Gestrigen und macht kraft seiner notorischen Komplexitätssteigerungsmechanismen auf vorher unbeachtete Kleinode aufmerksam. Er stellt der Texte verlor’ne Adern wieder her und entdeckt ein Gewebe voller Verknüpfungen und Vernetzungen, in dem sich Zeiten und Welten verdichten, Formtradition und Stoffreichtum miteinander verschmelzen. Jeder seiner Aufsätze ist ein Beweis der Polyvalenz seines Gegenstands und ermutigt zur erneuten Beschäftigung mit diesem. Freilich liest ein Literaturwissenschaftler sentimentalisch und ist sich seiner temporalen Distanz zu dem, was ihn bewegt, stets bewusst. Allerdings muss er nicht um die Aktualität seiner Lektüre fürchten, da sich jedes große Werk, um das es ihm hier geht, in reizvoller Manier mit der eigenen Wirklichkeit auseinandersetzt, auch wenn es sich ein strenges Stillschweigen über tagespolitische Themen auferlegen würde: nachahmend, variierend, provozierend, desillusionierend, spielend manchmal, oft aber ernster als lieblich. Und es spitzt allzu gerne zu: Denn wäre es konform, so wäre es trivial. Die Literatur, die lesenswerte, ist also eine Disruption par excellence. Aber sie ist eine anteilnehmende. Sie legt ihren Finger in die Wunden der Zeit und leidet mit. Und wer liest, lernt durch die Lektüre mitleidend mit der eigenen Zeit umzugehen. Dass sie aber weiterhin gelesen wird, vor allem an unseres Jahrzehnts ernstem Anfang, wo die Wirklichkeit beinah zur Dichtung wird, dafür sorgt die Literaturwissenschaft. Sie leistet Überzeugungsarbeit und macht dadurch die Literatur zur Zeitgenossin aller Zeiten.

Übrigens genieße ich als Parteigänger der Literatur hierzulande einen Vertrauensvorschuss, weil ich als Germanist in China meinen jungen, wissbegierigen, aber des Deutschen noch nicht mächtigen Studierenden die Sprache der Dichter und Denker beibringen darf. Eine ehrenvolle Aufgabe, der ich umso emsiger nachgehe, je düstrer die Zukunft unseres Fachs prophezeit wird. In unserer kleinen pädagogischen Provinz sind die Klassiker besonders geeignete Lernmaterialien für den Sprachunterricht, denn auf intensives wiederholtes Lesen kommt es hier an. Dabei machen die Studierenden, begeistert durch die Literatur, unglaubliche Fortschritte. Bei den diesjährigen Erstsemestern etwa haben wir im September erst mit Phonetik und Buchstaben angefangen, und im November deklamieren sie schon, freilich noch ohne es wissenschaftlich interpretieren zu können, Goethes Mailied, Heines Nachtgedanken oder gar Brechts Erinnerung an die Marie A. – auf Deutsch, versteht sich. Lässt sich vielleicht dadurch das Ideal einer ästhetischen Erziehung, zu dem man sich mittlerweile nur scheu bekennt, zumindest in auserlesenen Zirkeln stückweise realisieren, indem man die Studierenden, um Schiller endlich einmal ausdrücklich zu zitieren, »mit edeln, mit großen, mit geistreichen Formen« und »den Symbolen des Vortrefflichen« umgeben, dem gegenüber keine Freiheit gibt als die Lektüre? Jedenfalls wird die Literaturwissenschaft, die sich für die Literatur einsetzt, nicht abhandenkommen, solange die Literatur noch gelesen wird. Parteiisch kann man nur wie Roland Barthes von Herzen wünschen: Es lebe der Leser.

 

Mingchao Mao (Beijing)

 

Beitragsbild: Löschblatt von Gertrud von Le Fort.

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