ilse aichinger schreibt an ihre zwillingsschwester

Rot-Kreuz-Nachrichten sind eine Einrichtung, die es durch Krieg getrennten nahen Verwandten erlaubte (und heute noch erlaubt), ein Minimum an Kontakt zu halten. Unterschiedliche Stempel in mehreren Sprachen zeigen, wie viele Institutionen den privaten Inhalt mitlesen können. Manche dieser Briefe erreichen die Empfängerinnen nie, andere sind teilweise Monate unterwegs.

 

Im Juli 1939 ist Ilse Aichingers Zwillingsschwester, Helga, 17-jährig, mit einem Kindertransport ins britische Exil geschickt worden. Nur wenige Monate zuvor hatte sich schon ihre Tante Klara Kremer über die sogenannte Dienstmädchenemigration dorthin flüchten können. Der Mutter der Zwillinge, die seit dem sogenannten ›Anschluss‹ als Jüdin gilt, bleibt ein Visum verwehrt und Ilse zu ihrem Schutz in Wien. Denn nur der Umstand, dass Berta Aichinger Vormund eines minderjährigen ›Mischling ersten Grades‹ ist, bewahrt sie vor der Deportation durch die Nazis.

 

Als Helga am 4. Juli 1939 Wien verlässt, geht die Familie noch davon aus, dass es Helga und Klara gelingen wird, Bürgen für die Zurückgebliebenen zu gewinnen, und sich alle bald in England wiedersehen werden. Doch mit dem Überfall auf Polen durch das Deutsche Reich am 1. September 1939 und den dadurch ausgelösten Zweiten Weltkrieg zerschlägt sich diese Hoffnung. Auch der Postverkehr bricht zusammen und was bleibt, sind die seltenen Lebenszeichen auf Rot-Kreuz-Formularen.

 

Kein Brief des gesamten, sich über viele Jahre erstreckenden Briefwechsels zwischen den Zwillingsschwestern bzw. ihrer Mutter und Tante zeigt deutlicher, wie drastisch die Trennung das Familiengefüge erschüttert, wie fern und im Ungewissen die sich eigentlich so Nahestehenden sind. Im Sommer 1941 hat Helga in London den zwei Jahre älteren und wie sie aus Wien stammenden Exilanten Walter Singer geheiratet. Nun erwarten die beiden ein Kind. Diese Nachricht erreicht Mutter und Schwester erst, als die Schwangerschaft schon sehr weit fortgeschritten ist. Zwischen Ilse und Berta Aichingers überraschten Worten über Helgas Heirat und Schwangerschaft vom 13. April bis zum Erhalt der Rückantwort mit der Nachricht von der glücklichen Geburt am 17. September 1942 vergeht fast ein halbes Jahr. Die kleine Ruth ist da bereits zweieinhalb Monate alt.

 

Es wird Zeiten geben, in denen keine Seite weiß, ob die Anderen noch leben. Und auch nach Kriegsende – in Wien schon im April 1945 – ist zunächst kein Austausch per Post möglich. Es wird Sommer, bis die Schwestern sich erste Lebenszeichen senden können. Zum so verzweifelt herbeigesehnten Wiedersehen kommt es erst Ende 1947.

 

Helga und Ilse Aichingers Briefe aus den mehr als acht Jahren der Trennung sind unter dem Titel »Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe«: Briefwechsel, Wien–London 1939–1947 anlässlich des 100. Geburtstags der Zwillingsschwestern im Verlag Edition Korrespondenzen (Wien) erschienen. Neben den Briefen enthält der Band eine Auswahl der im gleichen Zeitraum entstandenen Gedichte und Prosaarbeiten von Ilse Aichinger, die sich teilweise als Vorarbeiten zu ihrem Debütroman Die größere Hoffnung (1947) lesen lassen. Aichinger gilt heute als eine der wichtigsten Vertreterinnen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur.

 

Nikola Herweg

 

In der Marbacher Zoom-Kapsel 5 ›100 Jahre Ilse Aichinger‹ haben am 21.10.2021 Thomas Wild und Nikola Herweg im Vorfeld des 100. Geburtstags der Schwestern Ilse und Helga Einblicke in Ilse Aichingers Nachlass im DLA Marbach gegeben. Nachzusehen in Kürze auf unserem YouTube-Kanal.

kommentar

Die E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Ich akzeptiere die Datenschutzhinweise gemäß DSGVO.