Variation 1: Text
Gib mir die Blumen, gib mir den Kranz ist ein Dialoglied mit den Sprechrollen ›Er‹ und ›Sie‹. ›Seine‹ Äußerungen sind ebenso nichtig und manipulativ wie die Ansage einer Warteschleife: ›Sie‹ verliert Blume und Kranz, ohne etwas zu gewinnen. Das lose Liedchen stammt aus dem Räuberroman Rinaldo Rinaldini von Christian August Vulpius, Goethes Schwager. Es wird als Duett mit Gitarrenbegleitung von einem Marquis und seiner lebhaften Cousine aus dem Stehgreif aufgeführt. Im Roman ist es Gegenstand frivoler Kommunikation. Das Mädchen im Lied fällt auf die Treueschwüre des Mannes herein, die den Mädchenpart singende Cousine der Romanhandlung dagegen nicht.
Variation 2: Ton
Die Liedmelodie von Gib mir die Blume ist bieder im besten Sinn: rechtschaffen, aufrichtig und verlässlich. Ihre Struktur ist solid. Sie gliedert sich in 8 + 8 Takte, steht in G-Dur mit einer Ausweichung in die Dominant-Tonart D-Dur und hat eine wiederkehrende Seufzermelodik mit Vorhalten auf voller Taktzeit. Schon beim ersten Hören wirkt sie vertraut. Friedrich Silchers Klaviervariationen Gieb mir die Blumen op. 1 holen das Beste aus der Melodie heraus. Sie enthalten sich jeglicher Virtuosität (obwohl einige davon ziemlich schwer zu spielen sind). Ihr Charakter ist lyrisch-liedhaft, teils auch festlich und selten brillant; mozartisch im Ton, ohne Interesse an komplexer Harmonik oder Kontrapunktik. Die elf Variationen schaffen Miniaturen bürgerlich-romantischer Innigkeit. Sie bleiben im Gestus des strophisch komponierten Lieds für den Hausgebrauch und erlauben sich nur selten Abweichungen vom ›mittleren Stil‹.
Variation 3: Kontext
Nach Beendigung seiner Ausbildung musste Silcher einige Zeit überbrücken vor dem Eintritt in den Schuldienst, den er erst nach Erreichen der Volljährigkeit erwarten konnte. In der Zwischenzeit wurde er Hauslehrer des Kreishauptmanns Joseph Freiherr von Berlichingen in Jagsthausen. Dort unterrichtete er zwischen 1807 und 1809 die fünf Freifräulein von Berlichingen in allen regulären Schulfächern und in Musik. Als Erzieherin und Gouvernante war zur gleichen Zeit Christiane Luise Hegel bei den Berlichingens engagiert, die Schwester des Philosophen. Nachdem Silcher mit der Familie von Berlichingen nach Ludwigsburg übergesiedelt war, lernte er dort Carl Maria von Weber kennen. Von dessen Sept Variations pour le Pianoforte op. 7 (1807) wurden Silchers Klaviervariationen inspiriert. Der zweitältesten Tochter von Berlichingen, Caroline, widmete er sein Opus 1 zur Konfirmation. Ob den Beteiligten der galante Subtext dieses Lieds im Ursprungskontext der Romanhandlung bewusst war?
Variation 4: Analyse
Warteschleifenmusik gibt einer ungewissen Wartedauer eine zeitliche Struktur. Ein undefinierter Zeitraum wird musikalisch kodiert und getaktet. Das Gleiche geschieht bei einem Variationensatz: Es hat endlich viele Glieder (= Variationen), aber eine unvorhersehbare Länge (weil man nicht weiß, wie lang der Komponist die einzelnen Variationen sein lässt, wie er sie ausführt und wie viele davon er schreibt). Die an das Thema anschließende Kette von elf Klaviervariationen in Gieb mir die Blumen ist eine Verklanglichung des Warteschleifensprinzips: Wie Glieder einer Kette, so materialisieren sie deren einzelne Elemente. Weil das Thema in den einzelnen Variationen immer wiederkehrt, bietet die gleichmäßige Periodik in der Warteschleife eine temporale Orientierung.
Variation 5: n-1
So, wie die Variationen ablaufen, so rücken wir (gefühlt) im Countdown der Warteschleife eine Position vor. Wir wissen nicht, wie viele Variationen es sind; ebenso wenig können wir wissen, auf welcher Position in der Warteschleife wir uns befinden. Übrigens: Vor 55 Jahren wurde die erste automatisierte Warteschleifenmusik patentiert.
Variation 6: Perzeption
Der performativen Unaufrichtigkeit eines unzuverlässigen Liebhabers oder eines unzuverlässigen Warteschleifen-Ansagers entgeht die Musik – in Warteschleifen und im Allgemeinen –, weil sie auf einen propositionalen Gehalt verzichtet. Als Hörer von Silchers Klaviervariationen werden wir aber letztlich doch manipuliert: Wir halten den ungewissen Zustand aus, werden fügsam und haben dabei das Gefühl, dass es vorwärts geht.
Variation 7: Finale
Anrufer in der DLA-Warteschleifenmusik können nach Lektüre dieses Texts dem Fortgang der Variationen lauschen, sich gedulden und bis zur Bearbeitung ihres Anliegens gedanklich den Relationen zur Literatur der Weimarer Klassik – Goethe (der Schwager!) und Schiller (Die Räuber!) nachhängen. Das vollständige Anhören der Variationen erfordert 12 Minuten. Das gibt es im DLA nicht. Wer das Werk in Gänze hören will, klicke hier
Es spielt Thomas Meyer, Marbach.
Gunilla Eschenbach