eine Form des spiels und mit ästhetischen erfahrungen verbunden

Das Wort Literatur – und es gibt entsprechende Wörter in allen europäischen Sprachen: literature, littérature, litteratur, literatuur, literatura, letteratura – hat im Lauf der Zeit ganz verschiedene Bedeutungen angenommen, so dass es nicht eine einzig verbindliche Definition geben kann. Die Bedeutung, die wir im Deutschen noch heute mit ›Literatur‹ verbinden, ist um 1800 entstanden und setzt ein besonders enges, ja vertrauliches Verhältnis von Leser und Autor voraus: Wir haben das Gefühl, dass uns ein Autor aus dem Herzen spricht. In seinem berühmten Text Was ist Literatur? von 1947 beschrieb Jean-Paul Sartre die Literatur als einen Pakt der Großherzigkeit zwischen Autor und Leser: »Der Schriftsteller appelliert an die Freiheit des Lesers, dass sie an der Produktion seines Werkes mitarbeite.« Er ist der Gastgeber für einen freiwillig Träumenden, den er nicht persönlich kennt.

 

Literatur ist das Medium einer bestimmten Grundsituation, die sich historisch verändert, aber zwei wiederkehrende Momente hat: Sie ist eine Form des Spiels und mit ästhetischen Erfahrungen verbunden. Als Spiel hat sie – wie Brett-, Karten-, Ball- oder Versteckspiele – Regeln. Das können metrische Regeln sein oder stilistische oder erzählerische. Diese Regeln sorgen für Strukturen und geben eine Form vor für den Pakt, der Leser und Autoren via Literatur verbindet: Sie können mit Erwartungen spielen, Regeln übererfüllen oder unterlaufen, auslegen oder erklären. Diese Art und Weise, innerhalb von Regeln eigene Impulse zu verwirklichen, wird als individuelle Freiheit erlebt. Daher können wir imaginierte Vertrauensverhältnisse in der Literatur aufbauen und einen Prozess der Seelenwanderung vollziehen. Wir leihen auf Zeit einem Text Herz, Kopf und Seele, identifizieren uns mit Figuren, verkörpern deren Sprache. Diese Seelenwanderung ist oft mit ästhetischen Erfahrungen verbunden. Das heißt: Wir setzen uns mit einem literarischen Text neben der Bedeutung immer auch in ein räumliches und in ein sinnliches Verhältnis zur Welt. Wenn ich ein Gedicht vorlese, dann hat dieses Gedicht nicht nur einen Inhalt, sondern auch Rhythmus und Klang. Wenn ich einen Roman lese, so hat er nicht nur einen Plot, sondern auch eine haptische Qualität: Er ist als Buch gegenwärtig, mit einem bestimmten Papier und einem bestimmten Volumen. Beides, Gedicht und Roman, bringen unseren Körper in eine bestimmte Haltung, die wir uns freiwillig suchen: Wir sitzen, stehen oder liegen beim Lesen, ohne dass der Körper dabei eine andere Aufgabe erfüllen muss.

 

Anders als eine Kommunikationssituation zwischen Lehrer und Schüler, Arzt und Patient, Pastor und Gemeinde ist der Pakt zwischen Autor und Leser einer zwischen gleichberechtigten Partnern. Literatur ist daher häufig auch ein Ort gewesen, um die eigene Menschlichkeit zu entdecken – in der Hoffnung, dass alle Menschen gleich und frei sein sollen. Die Idee von der Autonomie der Kunst um 1800 ist eng verbunden mit diesem Erleben von menschlicher Freiheit.

 

Dieser Text ist die schriftliche und gekürzte Ausarbeitung einer halbstündigen Online-Vorlesung, die Hans Ulrich Gumbrecht in Stanford für uns aufgenommen hat: www.dla-marbach.de/museen/wechselausstellungen/hoelderlin-celan-und-die-sprachender-poesie-digital/ Im Druck erschienen ist er im Marbacher Halbjahresprogramm 1/2021, das es auch online gibt: https://www.yumpu.com/de/document/read/65130125/programmheft-des-deutschen-literaturarchivs-marbach-1-2021

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