Literatur gibt es nicht, jedenfalls nicht ohne die Verabredung dazu. Literatur ist vor allem die Geste, sie dazu zu erklären. Diese Gestenhaftigkeit, diese Äußerlichkeit der Literatur bedeutet, dass man zwar mit einigem Recht vermuten kann, ein unbekannter Text sei literarisch, aber umgekehrt nie auszuschließen vermag, er sei es nicht – vielleicht hat man nur die Geste übersehen, die ihn dazu macht. Diese literarische Entgrenzung ist das Resultat einer Radikalisierungsbewegung, die durch die Avantgarden des zwanzigsten Jahrhunderts – von Dada über Konkretismus bis Oulipo – begonnen wurde und die von denen des einundzwanzigsten Jahrhunderts – in konzeptueller und digitaler Literatur – fortgeführt wird. Gerade die beiden letzteren drängen die Literatur noch weiter über ihre traditionellen Parameter hinaus: den Text als Grundbedingung von Literatur und die Grenze zur Welt, die sie darstellt.
Konzeptuelle Literatur erklärt die Geste selbst zum Text. Wie Duchamp ein Urinal zur Kunst machte, indem er es als Kunst auswies, nimmt sie gewöhnlich nicht als literarisch gelesene Texte und erklärt sie zu Literatur. Schreiben Sie auf eine Bedienungsanleitung ›Roman‹ und er wird dazu – niemand kann Ihnen das Gegenteil beweisen. Wie der Konzeptkunst ist dieser Literaturform der Gedanke wichtiger als sein Produkt, was heißt, dass im Extremfall gar kein Text mehr für das Werk nötig ist: Elisabeth Tonnards Invisible Book ist rein imaginär, wurde nie gedruckt – aber die Geste, die das Buch zum Buch erklärt, ließ Tonnard alle ›Exemplare‹ der auf 200 limitierten Auflage verkaufen, so dass es nun in Bibliotheken verzeichnet ist und auf Ebay gehandelt wird.
Macht die konzeptuelle Literatur im Extremfall den Text selbst überflüssig, geht die digitale Literatur den umgekehrten Weg und besteht auf der radikalen Textlichkeit einer Welt, die heute vollends digital zu werden verspricht. Das ist, anders als die alte Metapher von der Welt als Buch, durchaus wörtlich zu verstehen. Im Digitalen ist tatsächlich alles Text, denn es ist alphanumerisch codiert – Bilder, Töne, sogar Text selbst ist, auf einer tieferen Ebene, Text, der wiederum bearbeitet, prozessiert und transcodiert werden kann. Damit wird das, was manchen als die große Gefahr der Gegenwart erscheint – die Manipulierbarkeit digitaler Daten – zur Chance einer Literatur, die diese Daten selbst als literarisch auffasst und sich auf den Code der Welt versteht.
Literatur gibt es nicht. Sie ist Verabredung, die vor allem vom Jenseits ihrer Ränder her, aus dem Raum des Nichtmehr-Literarischen, immer aufs Neue auf die Probe gestellt und bestimmt wird. Nur so lernt man die Gesten zu erkennen, in der die künftige Literatur beschlossen liegt – vielleicht jenseits des Texts, vielleicht in dessen Überhandnehmen. Traditionalisten mögen diese Tendenz beklagen und sie für eine Profanierung des Literarischen halten. In Wirklichkeit ist es das Gegenteil: die tatsächliche und endgültige Poetisierung der Welt.
Hannes Bajohr
Hannes Bajohr hat 2015 für seinen Roman Durchschnitt alle Bücher aus dem 2002 von Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen zwanzigbändigen Kanon der deutschen Literatur als Textkorpus verwendet, mit Hilfe der Programmiersprache Python dessen durchschnittliche Satzlänge bestimmt (18 Wörter), dann alle Sätze anderer Länge aussortiert und das Ergebnis anschließend alphabetisch geordnet. 2018 veröffentlichte er den Gedichtband Halbzeug. Textverarbeitung, in dem ebenfalls Methoden der digitalen Textanalyse als Verfahren der Textproduktion genutzt werden. Hannes Bajohr nimmt an unserem ›Poesie-Hackathon‹ im Juni mit einem Vortrag über Poesie und KI teil.
Dieser Text entstand für das Marbacher Halbjahresprogramm 1/2021, das es auch online gibt: https://www.yumpu.com/de/document/read/65130125/programmheft-des-deutschen-literaturarchivs-marbach-1-2021