Im Sommer 1932 begann Walter Benjamin mit der Arbeit an einem Buch, das später sein bekanntestes werden sollte: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Es ist charakteristisch für die kurzen Prosa-Stücke, dass sie aus den Idyllen der Kindheit – dem Glück der seligen Vorfreuden, wohligem Gruseln und gut behüteten Träumereien – am Ende abgründige, wenigstens gebrochene Bilder schürfen. »Einzelne Expeditionen in die Tiefe der Erinnerung«, von der Benjamin hoffte, dass in ihnen zu merken sei, »wie sehr der, von dem hier die Rede ist, später der Geborgenheit entriet, die seiner Kindheit beschieden war«.
Die Geschichte des Texts, seine verschiedenen Gestalten wie sein wechselvolles Schicksal, passt gut dazu. Benjamin selbst hat die Berliner Kindheit zu seinen »zerschlagnen Büchern« und »unendlich verzettelten Produktionen« gerechnet – nie zustande gekommen, aber auch in alle Winde zerstreut. Immer wieder hat er sie überarbeitet, Texte ergänzt und ausgeschieden und in verschiedenen Reihenfolgen für mögliche Veröffentlichungen zusammengestellt. Erschienen sind sie zu seinen Lebzeiten nur einzeln in Zeitungen. Erst 1950, zehn Jahre nach seinem Freitod im spanisch-französischen Grenzort Port Bou, gab der Freund Theodor W. Adorno das Projekt erstmals als Buch heraus.
Neben kleineren Vorarbeiten sind heute vier umfangreichere Fassungen bekannt, keine davon mit der von Adorno identisch: zwei maschinenschriftliche Konvolute, das ›Gießener‹ und das als Fassung letzter Hand geltende, erst 1981 wiederentdeckte ›Pariser Typoskript‹, und zwei handgeschriebenen Sammlungen, die nach den Widmungsträgern benannt wurden: Adornos Ehefrau Gretel, von Benjamin Felizitas genannt, und Benjamins Sohn Stefan. Benjamins Schwester Dora ließ die Manuskripte nach dem Tod ihres Bruders zu Adorno nach Amerika bringen, der das Stefan gewidmete Exemplar nach Abschluss der Edition im November 1950 an diesen zurückschickte.
Wer die 28 Blätter des 2008 ins Deutsche Literaturarchiv gekommenen ›Stefan-Manuskripts‹ gegen das Licht hält, der entdeckt an ihnen wie bei jenen wertvollen Teetassen, auf deren zartem Boden das Gesicht eines Chinesen durchscheint, eine Besonderheit. Alle tragen das Wasserzeichen »extra strong«, nur selten jedoch vollständig. Benjamin muss das feine, doch stabile Papier aus einem schmalen, nur in der Mitte mit zwei Stichen gehefteten Schreibheft vorsichtig herausgelöst haben und die Bögen dann auf der linken Seite beschnitten haben, um eine Marginalspalte für Korrekturen zu haben. Ab und zu ist der Schnitt schräg geführt. Er faltet die Seiten nicht, was üblich ist, im Nachhinein, sondern stellt dem Schreiben das Aufschneiden, Entfalten, Glätten, Abschneiden und Wegwerfen voran.
Das verschwendete Viertel ist der blinde Fleck jener Expedition in die Tiefe der Erinnerung, die Benjamin so offensichtlich nicht abschließen konnte. Immer weiter hat er in dem ursprünglich als Reinschrift geplanten Manuskript korrigiert. Die Änderungen zeigen, wie Benjamin Erklärungen zugunsten deiktisch-privater, eigenwillig dunkler Gesten wegstreicht, wie er Wörter auf ihren doppeldeutigen Gehalt hin überprüft und diesen weiter ins Bewusstsein bringt. Immer mehr werden Dinge und Situation gegenwärtig. Das Erinnern weicht allmählich dem Imaginieren, dem Noch-einmal-Erzeugen. Dazu gehört auch, dass nicht alles deutlicher und einfacher wird. An manchen Stellen schlagen die Korrekturen und Entwürfe durch den Text durch, sodass sich Vorher und Nachher überlagern. An anderen überwuchert die ausladendere Korrektur die für Benjamin so typische kleine, auf winzigem Raum verdichtete Handschrift.
Im Marbacher ›Stefan-Manuskript‹ finden sich Wintertexte wie An einem Wintermorgen (mehr: https://www.walter-benjamin.online/seite/edition/wba_bk_stefan_ex_24). Ein Weihnachtsengel erscheint im ›Felizitas‹-Manuskript.
Heike Gfrereis
Beitragsbild: Seite aus Walter Benjamins ›Berliner Kindheit um neunzehnhundert‹ (Stefan-Manuskript). Das Manuskript ist in der Dauerausstellung des Literaturmuseums der Moderne zu sehen.