aggregatszustände. literatur im ausstellungskontext

Alle Fragen stellte Sebastian Bernhardt.

 

Wenn Sie von Literaturausstellungen sprechen, was verstehen Sie dann im Ausstellungskontext unter ›Literatur‹?

Heike Gfrereis: Für mich ist Literatur zunächst mal ein bestimmtes Phänomen, das mit Sprache zu tun hat, mit Formen verdichteter Sprache, mit künstlich gestalteter Sprache. Das ist das, was ich im engsten und im weitesten Sinne als Literatur verstehe. Diese Form von verdichteter, künstlicher Sprache ist in unserer herkömmlichen Vorstellung an das Papier und an die Schrift und damit an das Buch als Medium gebunden, kann aber auch jede andere Form annehmen: Literatur kann auch auf Hauswände geschrieben und in den Wind gerufen werden.

 

 

Was stellen Sie dann in diesem Sinne in der Dauerausstellung ›Die Seele‹ aus?
HG: Wir stellen dort vor allem die Aggregatszustände von Literatur aus, die sich im Archiv sammeln lassen – und die sich in einer Ausstellung zeigen lassen. Das sind im Fall der Dauerausstellung, die bei uns eine Schausammlung ist, materielle Spuren der Textentstehung, der Produktion, wie zum Beispiel Manuskripte, Skizzen und Pläne, aber auch der Textlektüre, der Rezeption, wie zum Beispiel gelesene Bücher mit Anstreichungen und Anmerkungen. Diese Spuren der Rezeption können dann durchaus wieder in Spuren der Produktion übergehen. Jeder, der schreibt, ist auch ein Leser.

 

Diesen Bereich des Zeigens von archivierten Textentstehungs- und -rezeptionszeugnissen haben wir seit der Eröffnung des Literaturmuseums der Moderne 2006 zu erweitern versucht, etwa durch Interventionen auf Exponatebene, um die wir Schriftsteller_innen gebeten haben, aber auch durch Interventionen auf der Vermittlungsebene, z.B. durch Projekte mit Kindergruppen, Schulklassen und Studierenden, mit Besucher_innen und eben auch wieder mit Schriftsteller_innen, die Exponate kommentiert und um eigene kreative, produktive Auseinandersetzungen erweitert haben.

 

Letztlich stellen wir in der Dauerausstellung die Vielschichtigkeit, Vielverknüpfbarkeit des Archivs aus – mit all den Überforderungen, die in einem Archiv auch dazu gehören: Man sieht Schriften, die man nicht lesen kann, die man nicht zuordnen kann und die man so auch kaum verstehen kann, dennoch sind sie präsent und da. Aus dieser Überforderung heraus entstehen dann Versuche, diese Dinge auf neue, andere Weisen zu verstehen und zum Beispiel mit anderen Dingen in Korrelation zu bringen und ein wenig zumindest Sherlock Holmes oder Miss Marple im Archiv zu sein: Spuren lesen, Indizien verknüpfen, Phänomene vernetzen, den Anschein dekonstruieren … Für manche Besucher_innen war und ist das sicher eine Überforderung oder auch Provokation: Wir zeigen Literatur ohne den Überbau eines Sinns, Archivalien ohne vordergründiges Anekdoten- und Geschichtenerzählen. Kinder erfahren das übrigens oft anders, für sie sind es stille und unbewegte, rätselhafte und geheimnisvolle Dinge, die wir ausstellen.

 

Einen weiteren Ansatz des Literaturausstellens haben wir früher vor allem an anderen Orten ausprobiert und bauen ihn jetzt auch in unsere Wechselausstellungen ein: das Zeigen der Texte selbst und vor allem ihrer poetischen Codes durch räumliche, eigens für das Ausstellen gemachte Installationen.

 

 

Was kann man sich darunter vorstellen?

HG: Das kann ein Text-Teppich sein (den wir 2010 mit einer Passage aus Goethes Wilhelm Meister im Frankfurter Goethe-Haus realisiert haben, um diese für die Besucher_innen ganz buchstäblich begehbar und körperlich erfahrbar zu machen) oder ein gesprochener oder projizierter, Raum greifender, auch Raum schaffender Text sein. Es kann auch der Text sein, den die Besucher_innen selbst aufführen können. In unserer aktuellen Wechselausstellung ›Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie‹ haben wir das 1804 zum ersten veröffentlichte Hölderlin-Gedicht Hälfte des Lebens als interaktives Poesiemodell mit zwei Ansichten (Text/Struktur) und einem Klangkörper in den Raum gestellt. Man kann das Gedicht diesseits des Wortlauts erfahren, wenn man sich auf einen grafischen Code einlässt, der die Buchstaben nach ihrer Art und Funktion markiert: Vokale, Konsonanten und Satzzeichen, Substantive, Adjektive und Verben. Das Schöne an der Literatur ist ja, dass ein Text in jeder Form zum Objekt werden kann: zu etwas, was man sieht, was man hört, was man tasten oder spüren kann.

 

Sieben Positionen zu Goethes ‚Wilhelm Meister'. Ausstellung im Frankfurter Goethe-Haus / Freies Deutsches Hochstift. 29.8.-1.11.2010.

Das heißt also, die ausgestellte Literatur bleibt für Sie immer an den Text gebunden?

hg: Ja, für mich bleibt Literatur immer an eine sprachliche Erfahrung und deren künstliche Rahmung gebunden und damit an so etwas wie einen ästhetischen Text, an ein Gebilde, das sich durch seine besondere Dichte von normalen Texten abhebt. Dieser ästhetische Text geht nicht verloren, wenn ich dessen Aggregatzustand verändere: bei einem vorgelesenen Text sehe ich nicht mehr seine bildhafte Gestalt, dafür höre ich seine rhythmische Textur.

 

Welche Rolle spielt die Vermittlung bei der Ausstellungskonzeption?

HG: Aus meiner Sicht ist eine Ausstellung in erster Linie ein Akt des Zeigens und damit des Konfrontierens und des räumlichen Erfahrens und kein diskursives Medium des weichen, alle mitnehmenden Erzählens. Dafür gibt es bessere Formen wie das Buch und das Gespräch. Wir trennen daher beim Planen einer Ausstellung immer den Zeigeakt vom Vermittlungsakt: Warum will ich überhaupt ein Objekt ausstellen – was sieht man daran, was könnte man daran sehen oder brauche ich es nur, weil es Anstoß zum Erzählen ist oder ein Beleg für meine Geschichte, eine Fußnote, ein Nachweis? Wie mache ich diese Objektfunktion durch das Ausstellen möglichst deutlich? Dieses Trennen von Zeigebene und Vermittlungsebene charakterisiert aus meiner Sicht die meisten Ausstellungen hier. Sie sind räumlichen Displays, in denen keine Inhalte und keine Bedeutungen inszeniert werden, sondern vor allem Objekte und eben vor allem Texte. Wir versuchen, Räume aus diesen Textobjekten zu gestalten. Und wir versuchen, diese Räume dann durch unterschiedliche Vermittlungsformen und auf unterschiedliche Weise mit den Menschen zusammenzubringen: durch Führungen und Workshops, durch Guidesysteme, durch Beschriftungen, die man sogar wie jetzt die Wortkarten zu ›Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie‹ auch mit nach Hause nehmen kann. All diese Vermittlungsformate sind bei uns offensiv subjektiv und individuell: für Menschen von Menschen gemacht. Daher ist die Museumspädagogik selbstverständlicher Teil der Ausstellungsarbeit und das LiMolab sichtbarer Teil des Rundgangs. Es liegt genau zwischen Literaturmuseum der Moderne und Schiller-Nationalmuseum.

 

Ab wann werden die Museumspädagogen in die Konzeption mit einbezogen?

Verena Staack: Sobald das Thema feststeht – dann überlegen wir zunächst einmal, wie können wir möglichst alle Besucherinnen und Besucher miteinbeziehen, besonders aber, weil das ein Schwerpunkt unserer Arbeit ist, Schulklassen ganz unterschiedlicher Altersstufen. Lassen sich Verbindungslinien zu den Lehrplänen ziehen, Verknüpfungen zum Unterricht.

 

HG: Jede Ausstellung ist ja an und für sich schon eine Form der Vermittlung: Sie zeigt etwas und – das kann ein Gegenstand sein, ein Text, aber auch ein Blick auf sich selbst und die eigene Wahrnehmung. Weil wir sehr unterschiedliche Ausstellungsthemen haben (welche, die auf den ersten Blick gut zu Bildungsplänen passen, andere, die in Bezug auf diese schwerer vermittelbar sind), gehen wir jeweils unterschiedlich vor, versuchen aber von Anfang an auch die möglichen ergänzenden Vermittlungsprogramme mitzudenken. Bei der ›Seele‹ und jetzt auch bei Interim zur Dauerausstellung im Schiller-Nationalmuseum war dieses Vermittlungsprogramm auch z.B. im Hinblick auf Schulführungen, schon für die Exponatauswahl integral, bei der Dauerausstellung davor haben wir, nachdem wir die Exponate ausgesucht haben, einige von ihnen für unterschiedliche Zielgruppenwege ausgesucht – für Eilige, für Kinder, für Schaulustige, für Leser. Später kam eine Führung von Schülern für Schüler dazu, dann noch eine des Krimiautors Heinrich Steinfest. Uns ist wichtig, dass jeder, der hier Ausstellungen macht, auch in den Museen führt – nicht nur seine eigene Ausstellung, sondern im Idealfall jede. Diese Resonanz ist nicht nur die schönste Art der Belohnung für die eigene Arbeit, sondern auch ein unmittelbares Korrektiv.

 

Auch ein Medium der Vermittlung: Kartenspiel zur Dauerausstellung im LiMo.

Inwiefern versucht die Dauerausstellung einen Bezug zu Bildungsstandards  herzustellen?

VS: Zum einen natürlich über die Sternchenthemen, zum anderen, indem wir schauen, wie wir Themen und Autoren, die wir gern vermitteln möchten, an Schullektüren anschließen oder sie zum Gegenstand von Übungen machen, wie zum Beispiel in den letzten Jahren das Schreiben von Essays. Die Jugendlichen können sich in diesem Fall selbst ihr Thema in der Dauerausstellung suchen, indem sie durch spazieren, sich treiben lassen und dann ein Exponat aussuchen und einen Schreibplan dazu entwickeln. Die Offenheit der Ausstellung ist hier eine riesige Chance.

 

Welche spezifische Rolle spielt dabei der reale Museumsraum im Unterscheid zum virtuellen?

VS: Der erste Mehrwert ist schon einmal das Herkommen: Marbach als Ort des literarischen Erinnerns kennenzulernen, das Archiv- und Bibliotheksgebäude, die beiden Museen. Die Schüler gehen nicht nur durch eine Ausstellung, sondern durch verschiedene Ausstellungen, sie erleben eine besondere Architektur.

 

HG: Meine erste Marbach-Erfahrung habe ich als Tutorin an der Uni gemacht. Ich war nach unterschiedlichen Ansätzen ratlos, wie ich meinen Grundkurs für Literaturwissenschaft begeistern kann. Alle Ansätze ließen die Studierenden kalt. Offenbar war das alles zu unwirklich, zu lebensfern, zu fiktiv und zu wenig begreifbar. Mein letzter Versuch war damals dann ein Besuch in Marbach im Archiv. Das Ergebnis nach anderthalb Stunden war verblüffend: Allein die Tatsache, dass es einen Ort gibt, an dem – etwas überspitzt formuliert – echte Menschen mit echten Texten von echten Menschen arbeiteten, hat viel mehr erreicht als jede Theoriesitzung. Es gab nun so etwas wie ein reales Gegenstück zur Literatur und so etwas wie konkrete und nicht nur ästhetische Gefühle, Gegenstände der Begeisterung und der Leidenschaft. In dieser Wirkung ist der reale, analoge Ort dem symbolischen wie dem virtuellen haushoch überlegen. Auch in einer anderen Hinsicht: Präsenz, Gegenwart, kann es nur im analogen Raum geben – wir spüren die Dinge im analogen Raum ja auch dann, wenn wir sie gar nicht anschauen. Sie sind da, widerständig und eben nicht vollständig verfügbar. Durch einen Raum mit solchen Dingen kann ich durchgehen, ich kann mich jeweils mit meinem ganzen Körper zu ihnen in ein Verhältnis bringen, mit Schärfen und Unschärfen, Abständen und Näherungen spielen, zum Beispiel, aber auch Veränderungen an mir selber entdecken. Museale Räume haben meist eine besondere Atmosphäre. Sie veranlassen uns, langsamer zu gehen, leiser zu sprechen, auch vielleicht kultiviert zu langweilen, uns in eine ästhetische Grundstimmung versetzen zu lassen, in eine Stimmung, in der wir bereit sind für tiefere Wahrnehmungen, nicht nur für flache Vernetzungen. Auch ganz konkret: In einer Literaturausstellung im analogen Raum sind die Exponate nicht flach, sie sind nicht nur Seiten – sie haben Falten und Risse und eben auch immer Rückseiten und Blattnachbarn, sind ein Volumen und ein eigener Raum, den man in allen Richtungen beschreiben und drehen und wenden kann. Diese zumindest imaginäre Haptik, dieses Reagieren und Arbeiten mit dem konkreten Material, diese Bewegungen, Schreib-, Lese- und eben auch Denkoperationen gibt es beim Ausstellen von literarischen Archivalien eben auch als Erfahrung obendrein. Im virtuellen Raum verliert diese Impetus anzufassen, zu bewegen und anzueignen die räumliche Dimension. Er ist eher eine Erfahrung der Fläche als der Tiefe.

 

Ihr Ziel ist also: die Materialität der Sprache im weitesten Sinne in den Blick zu nehmen und dadurch eine Verhältnis zur Literatur herzustellen. Würden Sie das so unterschreiben?

HG: Das würden wir alle vier, die wir hier am Tisch sitzen, unterschreiben, denke ich.

 

Blick in die Dauerausstellung im LiMo.

Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen diesem Literaturzeigen und einer Kanonisierung, die damit ja auch ausgestellt oder zumindest angebahnt wird?

HG: Der Reiz, Archivalien auszustellen, liegt für mich auch darin, den Kanon und die Kanonisierung zu unterlaufen. Man zeigt ja nicht wenig und dauernd, sondern viel und im Wechsel und eben auch im Wechselspiel von bekannten und unbekannten Namen und Texten. Wer Schillers Manuskripte ausstellt, der stellt zwangsläufig die eher unbekannten und unvollendeten Projekte aus, weil die Manuskripten zu den publizierten und bekannten weitgehend von ihm vernichtet worden sind. Ich würde ein Archiv per se als etwas definieren, was antikanonisch ist und antikanonisch wirkt. In den Sammlungen hier gibt es viele Autoren, die nur wenige kennen – bei nahezu 1.500 Nachlässen und Vorlässen kann das nicht anders sein. Auch sammelt das Deutsche Literaturarchiv Marbach weitgehend ja nicht retrospektiv, nach der Zeit, sondern aus der jeweiligen Situation heraus. Keiner weiß, ob jemand in 50 Jahren den Autor noch kennt, der jetzt seit 15 Jahren gelesen und diskutiert wird. In den Zeiträumen eines Kanons verändern sich ja auch Strukturen und Wertesysteme der Öffentlichkeit. In der alten Dauerausstellung lag dicht bei Franz Kafkas Prozess-Manuskript das Manuskript von Agnes Günthers Die Heilige und ihr Narr, 1911 entdeckt, 1913 veröffentlicht, mit über 140 Auflagen einer der kommerziell erfolgreichsten Romane des 20. Jahrhunderts. Damals kannten Agnes Günther viele, Franz Kafka kaum jemand. Heute ist es andersherum.

 

Solche historischen Verschiebungen kann man zeigen. Sie korrespondieren individuellen Formen der Wertschätzung, wie sie alle Besucher*innen vornehmen, indem sie etwas anschauen und etwas anderes nicht. Diese Pluralität von Validierungen und Valeurisierungen, dieses Diversifizieren macht ein Literaturarchivmuseum als sozialen Ort interessant. Es geht hier nicht um einen oder wenige Autoren, sondern eben auch offensiv um viele, ebenso wie es hier nicht um die Deutungshoheit geht, sondern um Deutungsoffenheit. In dieser Hinsicht  ist für mich so ein Literaturarchivmuseum auch konträr und nicht nur ergänzend zum Schulunterricht: Es wird hier ein Wissen gespeichert, das nicht homogen und abrüfbar ist, sondern heterogen und erfahrbar, aber eben nicht nach Kategorien von richtig oder falsch, wesentlich oder unwesentlich benotbar ist.

 

Sie haben vorhin von der vielleicht auch auftretenden Langeweile gesprochen. Auf der anderen Seite haben Sie bei der Wechselausstellung ›Lachen. Kabarett‹ gesagt, das Museum soll auch ein Ort sein, an dem man lachen darf. Wie passt das zusammen?

 

HG: Aus meiner Sicht geht das gut zusammen, die Stille und eben vielleicht auch Langeweile solcher Museen ist eine Möglichkeit, sie ästhetisch zu erfahren. Aber natürlich lassen sich andere Stimmungen und ein anderer Umgang damit provozieren. Teil unseres ersten #LiteraturBewegt-Projekts ›Lachen. Kabarett‹ war z.B. ein Klavier, auf dem alle Besucher*innen spielen durften, von was sie übrigens gern Gebrauch gemacht haben. Hinzu kamen musikalische Raumbespielungen durch Künstler wie Pigor & Eichhorn. Das Museum ist ein Ort des Staunens und des Wunderns und eben auch des Schweigens, was aber eben nicht ausschließt, dass es auch ein Ort des Lachens, des Tons und sogar des Lärms ist. Zum Museum als sozialen Raum gehört die Pluralität, nicht die Homogenität der Erfahrungen. Die Dauerausstellung versucht zum Beispiel auch unsere gewöhnliche Literaturausstellungsrezeptionshaltung zu durchbrechen, auch in einem ganz körperlichen Sinn, weil die Exponate nicht alle auf einer Ebene und in einer Linie legen. Man muss sich bücken oder auf die Zehenspitzen stellen oder sogar auf den Boden legen – und man darf es eben auch, ganz wie man Lust und Freude hat. Als Ausstellungkuratorin träume ich vom mündigen Besucher, nicht von einem, der in Reih und Glied marschiert. Daher haben wir nahezu immer auch Ausstellungen, in denen es keine Rundgang im herkömmlichen Sinn gibt, sondern freie Wegewahl. Das gilt auch für alle Ciceronen, die keiner Musterführung folgen, sondern sich jeweils ihre eigenen Führungen erarbeiten. Lesen ist ja auch eine produktive, kreative und keine rein konsumierende und bloß nachvollziehende Tätigkeit.

 

Welche Rollen spielen denn für die Ausstellungen Führungen?

VS: In der Führung nimmt derjenige, der die Führung macht, die Besucher zunächst einmal ein Stück weit an die Hand. Was bei uns in jede Führung immer gleich mit hineinspielt ist, die Besucher neugierig zu machen auf eigene Entdeckungen. Wir sehen die Führungen als Augenöffner und Appetitmacher, eine Anleitung, danach noch einmal auf eigene Faust und vielleicht noch einmal mit einem ganz anderen Blick durchzugehen und nicht zu sagen: »So, ich weiß jetzt alles, mehr gibt es nicht mehr«. Die Führungen sind aus unserer Sicht für die Besucherinnen und Besucher Sprungbretter ins Eigene.

 

Welche Arten von Schülerinnen- und Schülergruppen haben Sie vor allem?

Julia Schneider: Zum einen die gymnasiale Oberstufe, aber auch Grundschüler und die Sekundarstufe eins. Im Rahmen des bundesweiten Vorlesetages machen wir auch Angebote für Nichtleser und Noch-Nicht-Leser. Um andere Schularten einzuschließen, Förderschulen zum Beispiel. machen wir auch gezielt längere Projekte über ein Schulhalbjahr hinweg. Im letzten Jahr hatten wir eine Projekt mit Grundschülern und Senior*innen. Jedes dieser Projekte knüpft an eine Ausstellung an und wird zum Teil dann dort auch als Intervention oder Erweiterung sichtbar.

 

VS: Wir haben mit Erich Kästner und Michael Ende auch zwei Kinder- und Jugendbuchautoren in den Sammlungen des Archivs, so dass sich natürlich auch hier schöne Verbindungen zur Grundschule ziehen lassen; auch der Nachlass von Eduard Mörike steckt voll motivierender, anregender Kreativität, gerade auch für jüngere Schüler.

 

JS: Vielleicht ist das eine der schönen Einsichten beim Führen: Es gibt Ausstellunsgexponate, die für ganz unterschiedliche Zielgruppen aus unterschiedlichen Gründen spannend sind. Morgensterns Galgenlieder zum Beispiel und Kästners Steno-Manuskript von Emil und die Detektive.

 

Wie wichtig ist das Original für dieses Konzept?

HG: In ›Der Wert des Originals‹ (einer Ausstellung von 2014) haben wir an Beispielen gezeigt, dass auch die Kopie zum Original werden kann oder sogar die Leerstelle – das, was fehlt. Das Original ist auch eine imaginäre, nicht nur materielle Größe. Aber sicher: Für unseren Ansatz, Literatur auszustellen, indem wir Archivalien und das heißt auch: Originale zeigen, ist das Original die maßgebliche Bedingung und der maßgebliche Gegenstand. Wobei ich das Original nicht auf sein Originalsein einengen würde und die Tatsache, dass man mit großem, auch finanziellen Aufwand ein prekäres Objekt handelt. Das Original kann auch als Faksimile oder in virtuellen Präsentationen seine Funktionen entfalten. Für mich ergänzt sich das, ebenso wie sich analoge und digitale Räume wechselweise erweitern. Es ist eben auch eine Frage danach, was ich jeweils wie zeigen und vermitteln möchte und was die Bedingungen dafür sind.

 

Welche Rolle spielt für Sie das Digitale zurzeit bei Ihrer Arbeit?

HG: Durch Corona haben wir einige Monate lang extrem unsere Arbeit in den digitalen Raum verlegt und als Ersatz für Führungen, Workshops und Veranstaltungen Videos produziert, weil das etwas war, was wir selbst und relativ einfach und vor allem auch kostenneutral machen konnten. Der Wert, aber auch die Beschränkung von Phänomenen wie Sicherheit, Körper, Nähe und Resonanz, Raum und Zeit wurde uns deutlich. Die ersten Führungen nach dem Lockdown waren eine sehr seltsame, prekäre Erfahrung. Die allererste reale Gestalter-Besprechung unter Corona-Bedingungen schwierig, weil mir auffiel, dass ich tatsächlich andauernd Pläne anfassen und Dingen verschieben muss, um mich in Ausstellungen hineinzudenken. Als ob man sich andauernd des Analogen versichern müsste und anfinge, ihm zu misstrauen. Wir haben daher alle großen Ausstellungen im Raum zuerst einmal verschoben, die jetzigen Ausstellungen bis in den Sommer 2021 verlängert. Ich bin gespannt, ob unsere Ausstellungen sich dadurch langfristig verändern werden, ob wir zum Beispiel auch einfach noch einmal anders denken werden. Ich glaube, wir brauchen alle Zeit, um das und alles, was damit dann ja auch an negativen Erscheinungen wie zum Beispiel der Macht von Verschwörungstheorien und des ideologisch beängstigenden Fiktiven verbunden ist, als Erfahrung begreifen zu können.

 

Aktuell arbeiten wir unter anderem daran, wie man digital lesen und eben auch denken kann und es dann in den analogen Raum bringt – zum Beispiel, indem wir Daten im Raum visualisieren oder auch Räume bauen, die als Hypertext funktionieren. Die Literatur erhält durch das digitale Lesen ja ein anderes Gesicht und damit auch noch einmal eine andere Bildlichkeit. Auch können digitale Medien andere, eben sogar gerade wieder haptische Umgangsweisen mit Archivalien erlauben. Was uns zur Zeit auch beschäftigt: Welche Mensch-Maschine-Beziehungen sind beim Kuratieren denkbar? Wie zum Beispiel sieht eine Ausstellung aus, wenn Algorithmen mitkuratieren? Wie hilft uns die Maschine beim Ausbilden von Individualität?

Wie erkenne ich etwas an Texten und wie erkennen andere ebenfalls etwas? Dieses Verknüpfen von Forschung und Bildung, von Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik fasziniert mich am Medium Literatur-Ausstellung und es fasziniert mich auch den Ansätzen, die wir jetzt gerade mit Hilfe von Computern in den Ausstellungen ausprobieren – digitalen Textanalysen, aber auch empirischen Aufzeichnungen zum Beispiels unserer Augenbewegungen, unseres Herzschlags und unserer Stimme beim Lesen. Das sind für mich Methoden, um von der Interpretation und Kanonisierung verstellte Texte wie z.B. die Hölderlins auch wieder für individuelle Aneignungen zu öffnen und so etwas wie eine ästhetische, ganz analoge, körperliche, aber eben auch intellektuelle Erfahrung zu intensivieren oder auch erst zu ermöglichen.

 

Vera Hildenbrandt: Das Narrativ der Ausstellung ›Die Seele‹ zeigt, wie Literatur entsteht, so hat es Heike Gfrereis einleitend gesagt. Dazu gehört auch Vernetzung auf verschiedenen Ebenen. Literatur ist nicht voraussetzungslos, ein Text entsteht stets in einem Netz von Texten, verwandelt sich andere Texte an, spinnt fort, grenzt sich ab, widerspricht usw. Auch dies ist in der ›Seele‹ erfahrbar und in den Raum übersetzt. Die Medien, mit denen und auf denen und die Kontexte, in denen Literatur entsteht, die Gegenstände, von denen Literatur inspiriert ist, die Zeugnisse, die ihre Genese dokumentieren, sind im Raum der ›Seele‹ geordnet, geschichtet und vernetzt. Auch wenn die Objekte anscheinend ruhig in den Vitrinen liegen, sind diese Ordnungen, Schichtungen und Netze keineswegs statisch. Dies nicht zuletzt dadurch, dass die Besucherinnen und Besucher immer auch als Entdecker in der ›Seele‹ unterwegs sind, ihre eigenen Narrative finden können, so beim Flanieren in und durch den Raum nicht nur eigene Netze aufspannen, sondern auch das Kanonische mit dem, was dem Kanonischen entgegenläuft, verknüpfen können. Perspektivisch bietet dies eine schöne Möglichkeit, den analogen Raum mit einem digitalen zu kombinieren: Digitalisierte Objekte könnten mit dem Computer analysiert werden, es könnten noch einmal neue Netze entdeckt werden, die dann auch wieder in den analogen Raum zurücktransportiert werden könnten. Gerade darin liegt für mich die besondere Faszination des Arbeitens mit dem Analogen und dem Digitalen in Kombination.

 

Sebastian Bernhardt vertritt zur Zeit die Professur für deutsche Literatur und ihre Didaktik (Schwerpunkt Primarstufe) an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd.

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