›all dein glück wie nie gewesen‹. jan philipp reemtsma über peter rühmkorfs gedicht

All dein Glück wie nie gewesen

 

All dein Glück wie nie gewesen,

aller Scherz wie nicht von hier,

und da möchtest du es schon mal lesen,

daß es jemandem so ging wie dir.

Ganz genau so unbegründet

mitten aus der Fahrt zu Fall –

Daß ein Ich sein Echo findet

in dem sterneleeren Überall.

Wie ein Lied aus bessern Tagen

streift dich der Gefangnen Chor –

Ausgesprochene Versagersagen

reißen den Gestrauchelten empor.

Oder du auf deiner Einmannliege,

nachts, auf dem verrutschten Tuch,

wirst du deiner Einzigkeit gewahr –

und es wär schon gut, wenn jetzt ein Buch

über dir zusammenschlüge

wie ein lichtgesäumtes Flügelpaar

 

Was verhandelt Rühmkorf in diesem Gedicht?

Jan Philipp Reemtsma   Er erzählt eine Geschichte, die den Leser dieses Gedichtes oder die Leserin betrifft, die sie oder er kennt oder die sie oder ihm mal ins Haus stehen wird, nämlich eine erhebliche biografische Niederlage, ein Absturz: »All dein Glück wie nie gewesen«. Es gibt allerlei Gedichte, die dieses Thema ansprechen. Die Frage ist : Wie geht’s dann weiter? Es geht nicht so weiter, dass sich da gleich die Ermutigung anschließt: Du bist zwar jetzt allein und auf dich gestellt, aber das reicht ja vielleicht, behaupte dich und Ähnliches. Sondern das Überraschende ist, dass gesagt wird : So, wie es dir geht, möchtest du vielleicht von Leuten hören, denen es genauso gegangen ist. Nicht nur hören, sondern lesen, und dich dann nicht mehr so allein fühlen, obwohl du mit denen, die da auch gescheitert sind wie du, gar nichts zu tun hast. Aber wenn man allein ist im »sterneleeren Überall«, wie es in dem Gedicht heißt, dann will man vielleicht doch nicht ganz so allein sein – und sei es in der Fiktion einer Brüderschaft derer, die auf die Nase gefallen sind.

 

Wie klingt das Gedicht?

Jan Philipp Reemtsma   Man muss bei diesem Gedicht darauf achten, dass einige Verse, sagen wir, Akustisches aufrufen. Bei den »ausgesprochenen Versagersagen«, das ist ja sehr vokalintensiv, ein Diphthong, zwei »a«, und gleichzeitig ist in dem Wort »ausgesprochen «, was ja zunächst nur eine Verstärkung ist, »ausgesprochen schön«, »ausgesprochen schrecklich«, das »Aussprechen« drin. Und die »Versagersagen«, da sind die »Sagen« einmal die Erzählungen, die Märlein, aber es ist auch das Wort »sagen« drin. Und dann bekommt dieses Gedicht einen anderen Ton, indem es auf einmal auch optisch wird. Das Buch, das der auf seiner »Einmannliege « liest, das er über sich hält – hinten wird es von der Nachttischlampe angestrahlt. Das Licht lässt die Seiten des Buches hervortreten »wie ein lichtgesäumtes Flügelpaar«. Und dieses »Flügelpaar «, da haben wir dann gleich den Engel, der sich über den Liegenden beugt. Das ist ein optisch ungeheuer intensives Bild, das aus der zurückhaltenden, resignativen Nonchalance der anderen Zeilen herausführt und von einem verhaltenen Ton, zu einem, na, triumphalen wäre wirklich übertrieben, aber zu einem ins Hellere-sich-Orientieren überleitet.

 

Worauf spielt Rühmkorf mit dem Gefangenenchor an?
Jan Philipp Reemtsma   Der »Gefangnen Chor«, das ist Beethoven, Fidelio, das in der Musik pathetischste Sich-zu-Worte-Melden der leidenden, aber nicht gebrochenen Gefangenen. Ich glaube, dass die Assoziationen einen darüber nicht hinausführen müssen. Das ist kein Propagandagedicht für Amnesty International. Das ist kein Gedicht mit einer vokalisierten, politischen Aussage.

 

Dieses und vier weitere Gedichte im Gedichtpaten-Gespräch sind nachzulesen im Marbacher Magazin 171.172, Laß leuchten! Peter Rühmkorf – selbstredend und selbstreimend, das hier erworben werden kann: https://kurzelinks.de/137v

 

Die Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum in Marbach am Neckar ist noch bis 1. August 2021 zu sehen.

 

© für das Gedicht: Rowohlt Verlag, Hamburg.

 

Beitragsbild: Schlüssel zu einem Koffer, in dem Rühmkorf Manuskripte zu ›TABU I‹ aufbewahrte. Foto: Chris Korner (DLA Marbach).

 

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