nico bleutge: freisein für die phänomene

Haben Sie ein Lieblingsgedicht von Hölderlin?

 

An die Parzen mag ich sehr, Hölderlin- Evergreen, ein Gedicht ohne Pflanzen, dafür mit Odenform, Göttern und der Vorstellung vom Gedicht als dem »Heil’gen«. Aber auch späte, längere, verzweigtere Gedichte  wie In lieblicher Bläue lese ich immer wieder gerne (nicht nur wegen der Rosen darin), schöne Variationen: »Im Winde aber oben stille krähet die Fahne«.

 

Das lyrische Ich, so haben Sie es einmal gesagt, sei in Ihren Gedichten kein Ich, das sichtbar nach draußen tritt, sondern eine Wahrnehmungsinstanz, »die nur als ein Häutchen auf die Sprache aufgesetzt ist«. Auch in den Gedichten, die Hölderlin im Tübinger Turm schrieb, taucht das Wort ›Ich‹ nicht mehr auf. Wie verändert dieses ichlose lyrische Sprechen die Poesie?

 

Bei mir hat sich das aus dem Schreibvollzug heraus entwickelt: In den intensiven Schreibmomenten (die leider die seltensten sind) lässt sich gar kein zentrierendes Ich mehr ausmachen. Eher ist es eine Art von Selbstvergessenheit, als würde man in der Sprache und in den Vorstellungen aufgehen. Und doch kann man reflektierend immer wieder auf das Geschriebene zugreifen.

 

Gleichzeitig ist mir damals aufgefallen, dass die Ich-Perspektive – das scheinbar Subjektivste – durch den Akt und Gestus des Setzens das Ich plötzlich sehr groß werden lassen kann. Es hat dann den Anschein des Maßgeblichen und einen viel stärkeren Autoritäts-, Geltungs- und Herrschaftsanspruch als jede ›objektiv‹ auftretende, ›versachlichte‹ Redeweise. So hat sich ein Schreiben ohne Ich ergeben, im Sinne einer Offenheit, eines Freiseins für die Phänomene: etwas sehen, hören, betrachten können.

 

Ist dieses Schreiben ohne Ich ein Kniff, dem Leser das Gedicht zu entziehen, es ganz zur Sprache, zum Zeichen- und Klangkörper zu machen?

 

In Hölderlins spätesten Gedichten (den Jahreszeitengedichten) ist »der Mensch«, »die Menschheit« oder ein »Wir« an die Stelle des »Ich« getreten. Es entsteht ein entpersönlichtes, manchmal weisheitsbuchartiges Sprechen. Zugleich scheint mir gerade so eine bestimmte Charakteristik – gleichsam die Signatur einer geistigen Verfasstheit – umso deutlicher spürbar zu werden. Deutlicher vielleicht als durch ein Ich-Sagen.

 

Erste Leserstimmen zu meinen Gedichten haben mich auf das zurückgefahrene Ich in meinen Texten aufmerksam werden lassen, das bei mir anfangs nie ›Methode‹ war. Je länger ich schreibe, desto mehr wird mir die Dialektik auch dieser Bewegung klar. So wie ich die Erfahrung gemacht habe, dass der Versuch, etwas ganz genau und detailreich zu fassen, in sein Gegenteil umschlagen kann – also der Baum vor lauter Verästelungen nicht mehr in den Blick kommt –, so hat mir auch der Versuch, das Ich zurückzunehmen, gezeigt, wie man plötzlich auf das Ich und vor allem: auf die Sprache und ihr Eigenleben zurückgeworfen werden kann. Von daher arbeite ich inzwischen immer öfter ganz bewusst mit dem ›Ich‹, es ist eine Möglichkeit der Perspektive, also vereinfacht: Wer schaut im Gedicht (Sprecher wie Leser) von wo nach wo? Ich verstehe es als Sprechhülse, durch die ich ganz verschiedene Stimmen ins Gedicht schleusen kann, ohne dass sie dann noch klar unterscheidbar wären – bewusst gesetzte Mehr- und Vielstimmigkeiten bzw. Überlagerungen im Gedicht.

 

Was machen Hölderlins Gedichte mit Ihnen – und was Sie mit diesen?

 

Sie versetzen mich in eine, wörtlich, Hoch-Stimmung, die sehr intensiv ist, mich die Welt tatsächlich für den Moment anders erleben lässt, in der ich mich aber auch nur für eine begrenzte Zeit bewegen möchte. Sie bringen mich dazu, mir einzelne Formulierungen und gedanklich- rhythmische Bögen immer wieder sehr genau anzusehen. Sie fordern dauernde Aufmerksamkeit für die Umstellungen im Satzbau (als würde man laufen und dabei immer auf den Rhythmus seiner Schritte hingewiesen – und zugleich über diese Struktur nachdenken). Dabei gelingt es mir nicht immer, die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte dieses Tones auszuschalten, das ganze »weltanschauliche Gegrabsche«, wie es Karl-Heinz Ott jüngst genannt hat. Dafür haben Hölderlins Gedichte in den verschiedenen Zeiträumen einfach zu viele Beulen abbekommen. Und, etwas persönlicher: In einem Hölderlin-Gedicht heißt es über die Götter »Groß ist ihr Maß, doch es mißt gern mit der Spanne der Mensch.« Hölderlin versucht es immer selbst mit dem großen Maß. Da ist sein Anspruch, den ich ganz und gar verstehen kann. Aber das Große, glaube ich, kann auf Dauer nicht wirken, wenn es immerzu absolut gesetzt wird, wenn es ohne Kontrast und in diesem Sinne ungebrochen bleibt. Ab und an würde ich mir in den Gedichten auch etwas mit der Spanne Gemessenes wünschen oder jedenfalls den »Kindersinn«, von dem Hölderlin in einem anderen Gedicht spricht.

 

Noch einmal zum Lesen: Hölderlin ist ein Wanderer, später ein Spaziergänger – haben Sie seine Texte schon einmal draußen gelesen?

 

Nein, aber wenn ich ihn am Schreibtisch lese, setzt die umgekehrte Bewegung ein: Ich fange an zu wandern, ganz körperlich, die wechselnden Rhythmen versetzen mich in Spannung, der Körper reagiert ganz eigen auf die Gedichte, und ich gehe in dieser Sprache durch eine Landschaft, folge unterschiedlichen Tonhöhen, Bildern, einem Denken und ganzkörperlichem Wahrnehmen in einem.

 

Die Fragen stellte Heike Gfrereis.

 

Beitragsfoto: Screenshot aus Nico Bleutges Videoclip über Hölderlins Pflanzen https://www.youtube.com/watch?v=sv58DEzo0aU&t=1s

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