In unserer komplexen Welt (so scheint es zumindest) wird der Ruf nach Einfachheit und Eindeutigkeit lauter. Literatur bildete schon immer Gegenmodelle zu solchen Tendenzen aus: Sie schult den Umgang mit Mehrdeutigkeit, Mehrsprachigkeit, mit historischem Zufall und dem Wechsel von Rollen. Literatur vervielfältigt die Perspektiven. SateLIT nimmt diesen Impuls auf: Hier werden Menschen und mit ihnen aktuelle intellektuelle und künstlerische Positionen mit den Vielschichtigkeiten der Literatur und ihren Quellen ins Gespräch gebracht.
Fast jeder, der zum ersten Mal mit der Vielfalt der rund 1400 Vor- und Nachlässe, 34 Verlagsarchive, 450.000 Bilder und Objekte sowie der 100-jährigen Stimm- und Tongeschichte der Literatur im Deutschen Literaturarchiv Marbach konfrontiert wird, ist überwältigt. Manche sprechen vom »unterirdischen Himmel« (Martin Walser), andere vom »Massengrab« (Thomas Kling) oder »Komposthaufen« (Hans Magnus Enzensberger). Die größte Faszination der Marbacher Sammlungen besteht darin das zu erleben, was Enzensberger 1997 als »Blätterteig der Zeit« bezeichnet hat. Ein quadratisches Stück Teig wird flachgerollt, dann teilt man es, legt die Teile übereinander, streckt, teilt und schichtet sie wieder und so fort. Ein irgendwo in dieser Teigtasche versenkter Punkt, etwa eine Rosine oder ein Stück Schokolade, sucht sich im Zickzack einen nicht vorhersehbaren und mit keinem anderen Weg identischen Weg. Die Geschichte (und wir in ihr) ist so ein Art »Blätterteig-Spiel« mit »Schichten und Falten« und einer »unerschöpflich großen Zahl von Berührungen zwischen verschiedenen Zeitschichten«, so dass sich auch die Vergangenheit beständig mit der Gegenwart ändert.
Die im Marbacher Archiv bewahrten Handschriften, Bilder und Dinge sind solche Punkte im Blätterteig der Zeit. 2005 wurde in Marbach das Veranstaltungsformat Zeitkapsel eingeführt, bei dem neue oder unbekannte Sammlungen für einen Abend in der Öffentlichkeit diskutiert werden – als ephemere Ausstellung, experimentell, vorläufig und flexibel. Immer wieder wurden so größere Forschungs-, Ausstellungs- und Editionsprojekte angeregt, zum Beispiel die Ausstellungen Im Schattenreich der wilden Zwanziger: Karl Vollmoellers intime Fotografien und Harry Graf Kessler – Flaneur durch die Moderne, die 2018 und 2016 in der Stiftung Brandenburger Tor im Max Liebermann Haus gezeigt wurden. Die Stiftung Brandenburger Tor zeichnet sich durch ein Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm aus, das sie aus ihrem sich gesetzten Ziel, mit Kultur die Demokratie zu stärken, ableitet. Die Schwerpunkte liegen dabei auf der Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Fragen sowie der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Kulturmetropole Berlin.
Die beschriebenen programmatischen Ausrichtungen beider Institutionen werden nun bei SateLIT miteinander verbunden. SateLIT ist durch den strikten Archivbezug und die Auseinandersetzung mit Unikaten unverwechselbar. Zwei oder drei Schriftsteller oder Künstler verbinden ein von den Kuratoren vorausgewähltes Objekt aus den Marbacher Beständen mit einer persönlichen Erzählung oder Reflexion und diskutieren darüber öffentlich.
Jan Bürger und Heike Gfrereis
Die erste Ausgabe von SateLIT gilt einem bislang unveröffentlichten Konvolut von Postkarten und Briefen, die Else Lasker-Schüler von 1905 bis 1931 an den Literaturkritiker, Übersetzer und Mäzen Nicolaas Johannes Beversen meist aus dem »Hôtel« Koschel in der Berliner Motzstraße, dem heutigen Hotel Sachsenhof, geschrieben hat. Sie werden von Judith Kuckart, Shermin Langhoff und Thomas Sparr kommentiert und mit Förderung des Hauptstadtkulturfonds in der Stiftung Brandenburger Tor vom 26. August bis zum 7. Oktober gezeigt. Im Anschluss zeigen wir sie vom 18. Oktober 2020 bis zum 10. Januar 2021 im Literaturmuseum der Moderne.
Mehr dazu: https://www.youtube.com/playlist?list=PL2sE6vqXIDSAq59xCAFmH8MjxM28m2JQr
Beitragsfoto: Eine von Else Lasker-Schülers Postkarten an Nicolaas Johannes Beversen (Foto: DLA Marbach).