eigenwillige aufschreibesysteme. eduard mörikes geschenk-gedichte

Viele Mörike-Gedichte haben im Archiv eine besondere Gestalt, ein Surplus, das sie untrennbar mit dem Papier verbindet, auf das sie geschrieben worden sind. Einmal zum Beispiel sind zwei Brandlöcher so platziert, dass sie zeigen, von was die Rede ist: »In tausend Herzen bleibend zu verklär[en], / Erglüht der Sänger schw[ärmend im] Gedicht / Mei[st o]hne Dank, zum [mind’sten] fühlt er’s [nicht].« Ein anderes Mal ist die später zweite, aber zuerst entstandene Strophe von Gebet (»Wollest mit Leiden / Und wollest mit Freuden / Mich nicht überschütten! / Doch in der Mitten / Liegt holdes Bescheiden«) in unterschiedliche Schreibzusammenhänge gestellt. Mörike schrieb sie nach ihrer Veröffentlichung im Roman Maler Nolten (1832) unter anderen noch in ein altes Gesangbuch (Neue Rothenburgische Seelen-Harfe, 1767), in ein Miniaturpoesiealbum (1871) sowie auf das ›Naturendlospapier‹ Birkenrinde.

 

Mörikes Gedichte sind durch seine eigenwilligen, für den privaten Gebrauch bestimmten Aufschreibesysteme eine besondere Form von konkreter Poesie. Manche Spielereien mit Text und Träger faszinieren ihn so sehr, dass er sie in Variationen wiederholt, wie z.B. das Schreiben von Spiegelgedichten und von Rätsel-Sonetten mit Farbcode. Wohl 1836 haben sich der 32-jährige Mörike und sein sechs Jahre älterer Bruder Louis ein Geschenk ausgedacht, das die Zweiseitigkeit jedes Lobs scherzhaft in Szene setzt – einen Klapp-Spiegel, in dem jede*r sich sehen, aber auch ein Gedicht lesen kann, zum Beispiel dieses:

 

Einer Schönen. Im Spiegel zu lesen

Ein artig Lob, du wirst es nicht verwehren,

Obwohl gewohnt, es jeden Tag zu hören,

Gern möcht ich denn das platte »Du bist schön«

In lauter feinen Wendungen gestehn;

Doch wenn es mir an Worten nun gebricht,

Verschmäh ich auch ein listig Mittel nicht:

Ich weiß mit wundersamer Schrift zu necken

Und meine Meinung zierlich zu verstecken.

Damit ich aber gleich die Ungeduld versöhne,

Führ ich mit meinem Blatt vors Spiegelglas die Schöne,

Und was kein Schmeichler ungestraft gewagt –

Ihr eigen Bild hat es ihr nun gesagt.

 

1838 wird Mörikes Spiegel-Vers in hoher Auflage gedruckt – eine ›Galanterieware‹, die er auch häufiger verschenkt und später dann noch einmal variiert, als er einen Vers auf seinem vor Wut zerbrochenen Reiserasierspiegel platziert: »Darum bedenk, / o Mensch, so oft Du / dich rasierst, / Wie du mit Sanftmut / dich im Lauf des Tages / zierst«, sagt von da an mahnend »Der Spiegel zum Besitzer«.

 

 

 

Zum Nikolaustag 1845 verschenkt Mörike ein Sonett An zwei Dichterinnen, bei dem er die Reime durch Gedankenstriche ersetzt und mit einem Code aus Satzzeichen und Farbstreifen ergänzt.

Die Reimauflösung sieht so aus: [Son]ette – [ge]lingen – [ver]schlingen – Bette / Kette – [sp]ringen – [er]klingen – Klette – / fragen – stricken – Gaben / sagen – sticken – geraten.

 

1852 lässt Mörike im Kunst- und Unterhaltungsblatt für Stadt und Land (Stuttgart) ein ähnliches Sonett drucken – mit einem Titel, der für den nicht eingeweihten Leser den Geschenkcharakter verdeutlicht (Zwei dichterischen Schwestern von ihrem Oheim), und dem zum Randstreifen ausgestalteten Farbcode. Die zu erratenden Reime sind im Großen und Ganzen dieselben: [Son]ette – [ge]lingen – [versch]lingen – [h]ätte / [K]ette – [erk]lingen – [K]lette – [sp]ringen – / [N]ichten – [st]icken– [z]ählen / [d]ichten –[st]ricken– [S]eelen. Und doch wurde ein ganz anderes Gedicht daraus. In der gedruckten, veröffentlichten Variante des explizit an weibliche Leserinnen gerichteten Rätselgedichts werden am Ende die traditionellen Geschlechterzuordnungen von ›Zählen‹ und ›Stricken‹ gewechselt: »›Doch wenn die Lauren selber dichten, / Was soll Petrarca?‹ / Der mag Strümpfe stricken.« Emanzipation avant la lettre.

Ein Hinweis in eigener Sache: Mörikes kleine, aber feine Unterschiede haben auch uns an der Nase herumgeführt. Im Marbacher Magazin Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie haben wir die Rätselausflösungen der Farbsonette vertauscht.

 

Heike Gfrereis

 

Beitragsbild: Zerbrochene, von Mörike beschriebene und bezeichnete Eierschalen. Foto: DLA Marbach.

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