Celan und Sachs stehen seit 1954 im schriftlichen Austausch, und der Titel von Celans Büchnerpreis-Rede Der Meridian geht auf eine Formulierung von Nelly Sachs zurück: »Zwischen Paris und Stockholm läuft der Meridian des Schmerzes«, hatte sie ihm geschrieben. Persönlich werden sich die beiden aber erst knapp zwei Wochen nach dem Brief vom 12. Mai 1960 treffen: Im Zürcher Hotel ›Zum Storchen‹ führen Sachs und Celan ein langes Gespräch, vor allem zu ihrem jeweiligen Verhältnis zum Judentum. Das Gespräch reflektiert Celan in seinem kurz danach entstandenen Gedicht Zürich, Zum Storchen, das er Nelly Sachs widmet.
Er veröffentlicht das Gedicht in seinem Zyklus Die Niemandsrose (1963). Im gleichen Band erscheint mit Tübingen, Jänner Celans bekannteste lyrische Auseinandersetzung mit Hölderlin. Er schrieb den Text im Anschluss an einen Besuch im Januar 1961 bei dem Tübinger Professor Walter Jens, der ihm Unterstützung in der ›Goll-Affäre‹ zugesagt hatte. Tübingen, Jänner ist eine kritische Auseinandersetzung mit Hölderlin und seiner problematischen Rezeption im 20. Jahrhundert und zugleich eine poetische Stellungnahme Celans. Wie der Brief von Nelly Sachs zeigt, wurde die Verbindung aber immer wieder auch auf einer anderen, direkt vergleichenden Ebene gezogen – hier, in der Formulierung vom »Hölderlin unserer Zeit«, fast bis zur Sakralisierung gesteigert (in einem anderen Brief schreibt sie: »lieber Paul Celan – gesegnet von Bach und Hölderlin – gesegnet von den Chassiden«). Celan in der Rolle Hölderlins: Nicht zuletzt biografische Parallelen haben diesen Vergleich seither immer wieder angeregt. Dass man, nachdem Celan sich 1970 in Paris das Leben genommen hatte, auf seinem Schreibtisch eine aufgeschlagene Hölderlin-Biografie fand, hat dazu beigetragen.
Wenn wir uns heute in einer Ausstellung die Frage nach der Beziehung beider Dichter stellen, tritt allerdings wieder die entschiedene reflexive Distanz ins Zentrum, die Celans Auseinan-dersetzung mit Hölderlin prägt und die sich im Archivmaterial zeigt. Sie wird deutlich, wenn Celan in sein Exemplar der Hymne Friedensfeier einen Zweig Immergrün von Hölderlins Grab einlegt, aber am Rand auch streng philologisch die verschiedenen Fassungen des Gedichts unterscheidet. Und auch in Celans Gedichten ist die Distanz sichtbar: Hölderlins Verse gehen dort nicht unkommentiert als Wortmaterial in die Texte ein, sondern sie werden als etwas Fremdes gekennzeichnet, mit dem Celan sich auseinandersetzen muss. Am deutlichsten geschieht das vielleicht in Tübingen, Jänner, wo ein Zitat aus Hölderlins Hymne Der Rhein in seine Bestandteile zerlegt, aber zugleich als Zitat markiert wird:
Zur Blindheit über-
redete Augen.
Ihre – »ein
Rätsel ist Rein-
entsprungenes« –, ihre
Erinnerung an
schwimmende Hölderlintürme, möwen-
umschwirrt.
Am Ende des Gedichts zitiert Celan eine weitere Formulierung von Hölderlin, nämlich die Wendung »Pallaksch, Pallaksch«, die der alte Hölderlin für ›Ja und Nein‹ verwendet haben soll. In unserer Ausstellung lässt sich unmittelbar an drei Entwürfen des Gedichts ablesen, dass Celan sich Gedanken darüber gemacht hat, wie er die Zitate deutlich machen kann: Auf einem Blatt notiert er mit Wilhelm Waiblinger die Quelle, aus der er den Bericht über Hölderlins Zeit im Tübinger Turm hat, auf einem anderen unterstreicht er die Zitate. In der Druckfassung entscheidet er sich für die Anführungszeichen – sie unterstreichen eine Distanz, aber sie dienen auch dazu, Hölderlins Gedicht als eigenen Gegenstand anzuerkennen.
Beitragsbild: Nelly Sachs an Paul Celan, 12. Mai 1960.