Wie beziehen sich afrikanische Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf afrikanische und westliche schriftliche und mündliche Traditionen? Das uns mehr wollten wir im Juni mit Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern aus Afrika, Amerika und Europa live diskutieren. Stattdessen haben wir ihnen die Frage gestellt: »Was ist ›Afrika‹ für dich?«
Sylvia Schlettwein Ich bin eine namibische Schriftstellerin und Übersetzerin, die derzeit ihren Unterhalt als Deutsch- und Französischlehrerin verdient. Meine Muttersprache ist Deutsch, und ich schreibe auf Englisch, Deutsch und Afrikaans. Namibia, das sich auf dem afrikanischen Kontinent befindet, ist das Land, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin, in dem ich den größten Teil meines Lebens verbracht habe und in dem ich schreibe. Namibia/Afrika ist Zuhause, Familie, Inspiration und Bezugspunkt. Ich schreibe vielleicht nicht immer über Afrika, aber ich schreibe immer in und aus Afrika.
Annette Bühler-Dietrich Ich bin außerplanmäßige Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Stuttgart und unterrichte unter anderem Seminare zu Kolonialliteratur, Migration und dekolonialer Theorie. Seit 2010 lehre ich auch an der Université Ouaga I Joseph Ki-Zerbo, Burkina Faso, und übersetze Theaterstücke aus dem Französischen. Von 2012 bis 2018 habe ich in Burkina Faso gelebt. Als ich 2010 zum ersten Mal für einen Lehraufenthalt hinreiste, wollte ich für mich eine Beziehung zwischen der postkolonialen Theorie und dem Leben vor Ort herstellen, einem Leben, dem ich ohne vorgefasste Bilder zu begegnen versuchte. In Ouagadougou traf ich auf eine pulsierende Theaterszene und auf Studierende der Germanistik, die den Wissensaustausch suchten. ›Afrika‹ ist für mich ein fortdauernder Lernprozess, in dem ich Traditionen, Rituale, Sprachen und Codes zu verstehen suche und Wissensformen und Werte mit Freunden, Künstlern, Kollegen und Studierenden verhandle. Burkina Faso ist für mich auch ein Zuhause.
Ildevert Méda Ich bin Künstler, Dramatiker, Bühnenregisseur und Schauspieler. Ich bin der Direktor einer kleinen Theatergruppe namens théatr’Evasion, die ich 1996 gegründet habe. Heutzutage biete ich vor allem Workshops an, in denen ich Dramatik, Schauspiel und Bühneninszenierung lehre. Die Regierung von Burkina Faso bittet mich oft darum, an Projekten zur Lehre von Kunst und Kultur an Schulen mitzuwirken. Afrika steht für mich für die Zukunft der Menschheit. Deswegen habe ich mich dafür entschieden, hier in Afrika zu leben und meine Arbeit weiter zu entwickeln. Wenn ich beobachte, was in der Welt vor sich geht, fällt mir auf, dass die ständige Suche nach der Anhäufung von materiellen Werten und nach Selbstermächtigung dazu führt, dass menschliche Werte verloren gehen oder vergessen werden. Leider beobachte ich, dass Afrika sich seines eigenen Wertes nicht immer bewusst ist; es scheint ständig den Positionen der anderen Kontinente hinterherzulaufen, ohne darüber nachzudenken, welchen Preis es dafür zahlt: den Verlust seiner Menschlichkeit. Deshalb glaube ich, dass ich und andere Künstler und Künstlerinnen durch unsere Kunst dazu beitragen können, dass Afrika sich mancher seiner eigenen Werte bewusst wird.
Sami Tchak Sami Tchak ist ein Pseudonym für Sadamba Tcha-Koura. Ich wurde 1960 in Togo geboren, erwarb dort meine Licence in Philosophie und verteidigte 1993 meine Dissertation in Soziologie an der Universität Sorbonne-Paris V. Seit einigen Jahren widme ich mich dem Schreiben. Zu meinen Veröffentlichungen gehören Place des Fêtes (2001; dt. Scheiß Leben, 2004) Hermina (2003), La fête des masques (2004), Le paradis des Chiots (2006), Filles de Mexico (2008), Al Capone le Malien (2011), La couleur de l’écrivain (2014), Ainsi parlait mon père (2018), Les fables du moineau (2020). Seit 1986 lebe ich in Frankreich. Afrika, dieser Kontinent, auf dem sich mein Land, Togo, befindet, ist für mich eine Selbstverständlichkeit, aber auch der Ort meiner vielfachen Unkenntnis. Eine Selbstverständlichkeit, weil ich Afrikaner bin, weil ich von diesem Kontinent herstamme. Ort meiner vielfachen Unkenntnis, weil es ein riesiger Kontinent mit 56 Staaten und Hunderten von Völkern ist, deren Kulturen sich nicht in allen Punkten ähneln. Afrika ist mein Kontinent, aber erst in den Büchern, viele davon von Europäern verfasst, habe ich gelernt, es ein bisschen kennenzulernen. Meine zahlreichen Reisen in mindestens 20 afrikanische Länder haben mir weitere Eindrücke geschenkt. Afrika ist der Kontinent, von dem ich komme, aber bis zum Ende meines Lebens wird es für mich eine Realität sein, die ich nur in Bruchstücken kennen werde. Folglich werde ich nicht sagen »bei uns in Afrika«. Selbst mein kleines Dorf ist von einer großen Komplexität, und ich bräuchte ein ganzes Leben, um zu versuchen, sie zu verstehen.
›Narrating Africa‹ – ein Projekt in Zusammenarbeit mit Annette Bühler-Dietrich, Universität Stuttgart, und der Universität von Namibia; gefördert vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden- Württemberg.
Beitragsbild: Blick in die Ausstellung ›Narrating Africa‹ (bis 1. August 2021). Foto: DLA Marbach.