was ist ›afrika‹ für dich? teil 1

Schreiben ohne sich auf die Geschichte zu beziehen und ohne sich selbst in ein Verhältnis mit der Welt zu bringen, ist nicht möglich. Wie beziehen sich afrikanische Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf afrikanische und westliche schriftliche und mündliche Traditionen? Welche fiktiven Traditionen funktionieren als ästhetische Prinzipien? Kann von Afrika nur im Verhältnis zu einem westlichen Kanon erzählt werden? Das wollten wir im Juni 2020 zwei Tage lang mit Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern aus Afrika, Amerika und Europa diskutieren. Stattdessen haben wir ihnen die Frage geschickt, die wir uns im Herbst 2019 selbst gestellt haben: »Was ist ›Afrika‹ für dich?«

 

Oladipo Agboluaje   Wer bin ich? Was ist für mich ›Afrika‹? Diese Fragen verlangen, dass ich ein Narrativ aus Fragmenten erstelle, die sich zeitlich und räumlich immer wieder neu zusammensetzen. Ich weiß, dass ich Oladipo Agboluaje bin, ein Dramatiker und Universitätstutor. Ich habe in Nigeria und im Vereinigten Königreich gelebt. Ich bezeichne mich selbst als ›British-Nigerias‹. Ich wurde einmal von Kollegen aus Sierra Leone gefragt, warum ich einen Bindestrich verwende, um meine Identität zu beschreiben. Als Antwort zitierte ich Tennyson: »Ich bin ein Teil von allen, denen ich begegnet bin.« Ich verstehe mich selbst als Afrikaner, aber ich bin nigerianischer Staatsangehöriger und gehöre dem Volk der Yoruba an. Meine Heimatstadt ist Oyo im Westen Nigerias. Ich glaube an den Panafrikanismus und daran, dass Afrikanerinnen und Afrikaner sich vereinen müssen, um ein Afrika frei von seiner kolonialen Vergangenheit und der Geschichte der Sklaverei zu erschaffen. Dieses Afrika, das ich mir wünsche, ist keine Utopie, sondern eine Notwendigkeit. Daher verstehe ich Afrika als Entstehungsprozess.

 

Julia Augart   Ich bin Lektorin an der University of Namibia und lehre dort deutsche Sprache und Literatur. ›Afrika‹ ist einer der vielfältigsten und aufregendsten Kontinente für mich, der leider häufig auf ›Afrika‹ reduziert wird. Seine Vielfältigkeit und Komplexität werden meistens ignoriert und in den Medien auf Bilder von Armut und Kriminalität und in Romanen und Filmen auf romantische Klischees reduziert. Aus meiner Sicht bietet jedes afrikanische Land seine eigene, einzigartige multikulturelle und mehrsprachige Landschaft, die ich unter anderem durch seine vielfältige Literatur erforsche.

 

Jennifer Nansubuga Makumbi   Ich bin eine Schriftstellerin aus Uganda. Mein erstes Buch, Kintu, ist ein historischer Roman. Das zweite ist eine Sammlung von Kurzgeschichten aus der Zeit der Diaspora, Manchester Happened. Mein drittes, The First Woman, ist ein feministischer Roman und erscheint dieses Jahr. Afrika ist Zuhause. Es ist ein Ort der Liebe, der Schönheit, des Essens, der Musik, des Tanzes, der Fantasie und der großen Familien. Aber es ist auch ein Ort des Schmerzes, der Absurditäten, der Verschwendung und der schieren Frustration. Afrika wurde von Nicht-Afrikanern falsch beschrieben, falsch dargestellt und falsch verstanden.

 

Nelson Mlambo   Ich bin Dozent im Fachbereich ›Sprache und Literaturwissenschaft‹ in der Abteilung ›Englisch‹ an der University of Namibia, wo ich mit Freude Vorlesungen zu afrikanischer, südafrikanischer und namibischer Literatur halte. Afrika steht für mich für die Vitalität der Bevölkerung, die kulturelle Vielfalt und Kontraste, für den Regenbogenkontinent, auf dem verschiedene Völker zusammen leben, für Ubuntu-Philosophie und vor allem für die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung. Mich faszinieren auch Darstellungen und Kritik an Afro-Euphorie und Afro-cli-fi (Literatur, die sich mit dem Klimawandel auseinandersetzt) in der afrikanischen Literatur.

 

Rémy Ngamije   Ich bin ein in Ruanda geborener namibischer Schriftsteller und Fotograf. Mein Debütroman The Eternal Audience Of One erscheint demnächst bei Scout Press. Ich schreibe Texte für brainwavez.org, eine Schriftstellervereinigung in Südafrika, und ich bin der Chefredakteur von Doek!, Namibias erster Literaturzeitschrift. Meine Kurzgeschichten sind in verschiedenen Journalen veröffentlicht worden, unter anderem in Litro Magazine, AFREADA, The Johannesburg Review of Books, The Amistad, The Kalahari Review, American Chordata, Doek!, Azure, Sultan’s Seal, Columbia Journal und New Contrast. 2020 war ich Longlist-Kandidat für den Afritondo Short Story Prize; 2019 wurde ich für den Best Original Fiction Preis von Stack Magazines nominiert. Weitere Informationen zu meinem Werk finden Sie auf meiner Webseite: remythequill.com. Was Afrika für mich bedeutet? Es gibt keine einfache Antwort auf diese Frage, weil sich diese Bedeutung von Tag zu Tag, manchmal von Stunde zu Stunde verändert. Für mich persönlich, und ganz einfach gedacht, bedeutet es zunächst nur: Zuhause. Aber selbst das ist eine umstrittene Bezeichnung. Trotzdem ist es das für mich: Zuhause – ein Ort, an dem ich geschützt und sicher bin. Der Ort, an dem ich geboren wurde, von dem ich stamme und an den ich zurückkehre. Dies alles sind offensichtlich nebulöse und sich verändernde Konzepte, aber wenn sie sich einer eindeutigen Erklärung und Kategorisierung entziehen, dann nur, weil sie dem Konzept gleichen, das sie zu erklären versuchen – Afrika ist mehr als eine Landmasse, mehr als seine Bevölkerung. Es befindet sich ständig in Bewegung und im Fortschritt. Eben das ist es, was für mich ›Zuhause‹ bedeutet, und auch, was Afrika für mich bedeutet.

 

›Narrating Africa‹ – ein Projekt in Zusammenarbeit mit Annette Bühler-Dietrich, Universität Stuttgart, und der Universität von Namibia; gefördert vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden- Württemberg.

 

Beitragsbild: Blick in die Ausstellung ›Narrating Africa‹ (bis 1. August 2021). Foto: DLA Marbach.

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