›hölderlin, celan und die sprachen der poesie‹. sieben fragen zur ausstellung. teil 1

Alexa Hennemann: Hölderlins Gedicht Hälfte des Lebens zieht sich leitmotivisch durch Ihre Ausstellung und ist Ausgangspunkt der Beatbox. Warum dieses Gedicht, und warum eine Beatbox als Auftakt?

 

Heike Gfrereis: Vor kurzem fand ein Gast dafür den schönen Begriff ›Analyseorgel‹. Zur sinnlichen Erfahrung von Gedichten gehört ihr klangliches Erlebnis. Sie arbeiten mit Lauten und Tönen, Rhythmen, Melodien und Klangfarben und appellieren an jeden, der liest, zu ihrem Resonanzraum zu werden und ihnen nicht nur sein Ohr, sondern vor allem auch seine Stimme und seinen Körper zu leihen. Diese Erfahrung kann man intensivieren und auch lernen, wenn man anfängt, Gedichte tatsächlich laut zu lesen und sie in ihre Einzelteile zu zerlegen: Vokale und Konsonanten, die für den Klang und den Sinn eines Textes sorgen, Satz-zeichen, die ihn gliedern, die Stimmhöhe prägen und uns Pausen zum Luftholen schenken, Substantive, die eine Welt entwerfen, Verben, die Bewegung hineinbringen, und Adjektive, die dafür sorgen, dass wir diese Welt wahrnehmen und empfinden können. Vieles findet sich gerade in Gedichten als Wiederholungsformel, als Serie. Manches – wie z.B. in Hälfte des Lebens das Wort ›heilignüchtern‹ – ist einmalig. Man findet kein Gegenstück dazu, keine Auflösung, wenn man es so zuspitzen will. Hölderlins Gedichte irritieren und sie bezaubern unter anderem auch durch diesen Mangel an Auflösungen, durch ihre Labilität, ihren prekären Sound und letztendlich auch durch einen Rest Unverständlichkeit. Mit der Beatbox wollen wir allen Besuchern eine Möglichkeit eröffnen, Hölderlins Gedichte frei von Erwartungen zu lesen. Sie will dazu anregen, mit Gedichten als Sprachereignis umzugehen. Für Hälfte des Lebens haben wir uns aus mehreren Gründen entschieden: Es ist so kurz, dass man es überblicken und tatsächlich noch ganz buchstäblich mit den Fingern abzählen und begreifen kann, und es ist von Interpretationen verstellt, sodass es eine Entdeckung sein kann, den Text darunter wieder freizulegen und zu lesen, was Buchstabe für Buchstabe da steht.

Hölderlins ›Die Zufriedenheit‹, entstanden wohl Anfang 1811.

Alexa Hennemann: In der Ausstellung werden Gedichthandschriften Hölderlins in ihrer Chronologie gezeigt: Lassen sich Veränderungen erkennen – bezogen auf Inhalte, Schreibprozess und die Handschrift selbst?

 

Heike Gfrereis: Auf den ersten Blick verändert sich in dieser chronologischen Hängung viel: Der junge Hölderlin schreibt fein säuberlich auf kleine Papiere. Der mittlere schreibt auf großen, zusammengebundenen Blättern gleich mehrere Gedichtentwürfe ineinander, er schichtet Texte und schält dann ein Gedicht heraus, als ob er eine Skulptur aus einem Block heraushauen müsste. Der späte schreibt überwiegend wieder auf kleinere Einzelblätter und nun so, dass meist ein Gedicht auf eine Seite passt. Da gibt es keine komplizierten Schichtungen, sondern klare Konturen. Die späten Gedichte sind gut lesbar, in ihnen allen fehlt das Wörtchen ›ich‹, sie sind gereimt und gelten allgemeinen Themen: den Jahreszeiten, der Aussicht, der Menschheit und der Zufriedenheit. Vom Ton, vom Klang her verschiebt sich hier ebenfalls viel: Die frühen Gedichte klingen nach Friedrich Schiller, die späten nach moderner Lyrik. Für mich sind gerade diese späten Gedichte faszinierend. Alles in ihnen ist extrem und bewegt sich doch um einen Ruhepunkt herum – den Körper, der hier spricht und atmet, riecht und lauscht und allmählich eins wird mit dem Maß des Verses: »Zwar gehn die Treppen unter den Reben hoch / Herunter, wo der Obstbaum blühend darüber steht / Und Duft an wilden Hecken weilet, / Wo die verborgenen Veilchen sprossen; // Gewässer aber rieseln herab, und sanft / Ist hörbar dort ein Rauschen den ganzen Tag; / Die Orte aber in der Gegend / Ruhen und schweigen den Nachmittag durch.«

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