erinnern, schreiben, sammeln. am Beispiel von Albert ehrenstein

»Ein Buch kehrt zurück, das vor einem halben Jahrhundert entstanden ist, und der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts ein neues Gesicht gab: Das Gesicht des Widerstands. Ich verdanke das Buch, dem ich den Titel Die verbrannten Dichter gab, der Stadt Prag, von der Robert Musil sagte, dass sie der ›Mittelpunkt Europas‹ ist, ›wo die Weltachsen sich schneiden‹. So schreibt Jürgen Serke im aktualisierten Nachwort zur Neuauflage seines Buchs, das – hervorgegangen aus Reportagen für die Zeitschrift Stern – 1977 mit seinen über dreißig bebilderten Dichter-Porträts Aufsehen erregte, weil es – glänzend geschrieben und recherchiert – auf jene Dichter aufmerksam machte, deren Leben und Werk im Nationalsozialismus bedroht oder vernichtet worden war – und nach dem Krieg vergessen. 90 Jahre nach der Bücherverbrennung und zu Serkes 85. Geburtstag ist dieses legendäre Reportagebuch nun wieder lieferbar, das u.a. an Ernst Toller, Else Lasker-Schüler, Claire Goll, Albert Ehrenstein, Alfred Döblin, Hans Henny Jahnn und Gertrud Kolmar erinnert. Vergangenheit und Gegenwart sind zwei Seiten einer Münze. Weswegen es nicht nicht verwundert, wenn Serke im Hinblick auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine im Nachwort lapidar feststellt: »Wieder spielt der Widerstand eine überragende Rolle.«

 

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Wir erinnern und lesen immer von heute aus. Und so denkt man unwillkürlich an einen gewissen Agenten des britischen Geheimdiensts, wenn man anfängt, Ehrensteins bekanntestes Werk zu lesen: »Mein Name ist Tubutsch, Karl Tubutsch.« Doch bereits mit dem nächsten Satz entfaltet die grüblerische, bitter-groteske Rollen-Prosa des Tubutsch, 1911 mit Illustrationen des Ehrenstein-Freundes Oskar Kokoschka erstmals erschienen, ihr verstörendes Potenzial: »Ich erwähne das nur deswegen, weil ich außer meinem Namen nur wenige Dinge besitze …« Dieser Ton, der auch eine Art Detonation war, wird gehört und begrüßt in der literarischen Welt. Dem am 23. Dezember 1886 in Wien geborene Ehrenstein gelingt mit Tubutsch ein frühes und bleibendes Zeugnis des literarischen Expressionismus: Antibürgerliche Affekte und Selbstzweifel bis zur Handlungsunfähigkeit grundieren eine neue, strikt subjektive Prosa, die lyrisches Pathos ebenso kennt wie schrullige Skizzenhaftigkeit. Was hier Ausdruck wird, ist mehr als nur Literatur.

 

Ehrenstein, Sohn ungarischer Juden, aufgewachsen in kleinbürgerlichen Verhältnissen und einem zunehmend antisemitischen Klima, reibt sich in Versen und kurzen Prosastücken an den Menschen. Ein Jahr vor der Veröffentlichung des Tubutsch schließt Ehrenstein sein Studium der Geschichte, Philologie und Philosophie mit einer Dissertation ab. 1910 gelingt Ehrenstein der literarische Durchbruch, den er Arthur Schnitzler und Karl Kraus verdankt. Kraus druckt in seiner Zeitschrift Die Fackel Ehrensteins Gedicht Wanderers Lied – Verse, die Kurt Pinthus’ Einschätzung, Ehrenstein sei der »Dichter der bittersten Gedichte deutscher Sprache«, bestätigen: »Töte dich!« spricht mein Messer zu mir. / Im Kote liege ich; / Hoch über mir, in Karossen befahren / Meine Feinde den Mondregenbogen.« Bei allem expressionistischen Pathos, das heute vor allem die Lektüre von Ehrensteins Liebesgedichten schwierig macht, die »Feinde« sind für Ehrenstein keine bloße Metapher. Dabei ahnt er wohl, dass auch er selbst mitunter eine Zumutung ist. Einen Bekannten warnt er vor einer persönlichen Begegnung mit den Worten: »Kommen Sie aber nur, wenn Sie ein starkes Herz haben, sonst könnten Ihnen meine Klagen und Selbstanklagen schaden.«1

Vergnügungspark-Fotografie aus dem Prater in Wien. Von links nach rechts: Kafka, Albert Ehrenstein, Otto Pick und Lise Kaznelson (1913).

Ehrenstein, der als Lektor im Kurt Wolff Verlag Kafkas Bedeutung früh erkennt und 1913 im Berliner Tagblatt Kafkas Prosaband Betrachtung als »merkwürdig feines Buch eines genialen Dichters« rühmt, sich im Ersten Weltkrieg gegen den Krieg ausspricht (Die rote Zeit) und nach Kriegsende gemeinsam mit Franz Pfemfert und Carl Zuckmayer das Manifest der antinationalistischen Sozialistenpartei unterschreibt, befindet sich meist in Opposition zu den Mehrheiten seiner Zeit. Als linker jüdischer Autor ist er den braunen Machthabern im Nationalsozialismus ein Dorn im Auge. Als bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 auch seine Bücher auf den Scheiterhaufen kommen, ist er schon nicht mehr in Deutschland. Bereits 1932 war Ehrenstein in die Schweiz emigriert, lediglich seine tschechische Staatsbürgerschaft rettete ihn vor der Abschiebung; 1941 gelingt ihm von Spanien aus die Flucht in die USA.

Resignation und Verzweiflung hatten sich bereits früher und zunehmend in Gemüt und Werk des Dichters bemerkbar gemacht. Auch wo er die Grenzen seiner Welt verlässt, finder er Anlass zur Verzweiflung: so als er 1928/29 im Auftrag deutscher Zeitungen Nordafrika und den Nahen Osten bereist und das Elend des Kolonialismus kennenlernt, so als er in Übersetzungen das literarische Erbe Chinas erkundet und auch dort von Unterdrückung aller Art liest. Eine Auswahl seiner Nachdichtungen aus dem Chinesischen erschienen 1970 unter dem bezeichnenden Titel Ich bin der unnütze Dichter, verloren in kranker Welt.


Im Exil lernt Ehrenstein Englisch, doch seine Produktivität fällt weitgehend seiner literarischen und menschlichen Vereinsamung und dem Kampf ums materielle Überleben zum Opfer. Nur dank der finanziellen Unterstützung von Freunden kommt Ehrenstein in Amerika über die Runden. 1949 geht Ehrenstein zuerst in die Schweiz, dann nach Deutschland zurück. Da er keinen Verlag für seine Werke findet, kehrt er verbittert nach New York zurück. Seine Zimmerwirtin bemerkt erst nach einiger Zeit, dass er »nicht wort- und bewegungslos sein wollte, sondern (nach einem Schlaganfall) gelähmt war« (Charlotte Beradt). Am 8. April 1950 stirbt Ehrenstein in einem Armenhospital in New York. Freunde sorgen dafür, dass seine Asche und seine Papiere zum Bruder Carl nach England geschickt wird.

Auf seinen besten Seiten beweist Ehrensteins Werk noch heute die von Arno Schmidt bewunderte »heilsame Rücksichtslosigkeit«, eine »schneidende Energie des Ausdrucks« – und messer-scharfen (Aber-)Witz.


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»Badenhop hielt seine Bibliothek ziemlich gleichbleibend auf einem Stand von 2.200 Bänden, stieß am Ende jeden Jahres ab, was ihm unwichtig geworden, um es durch Neues, das nun bedeutsamer schien, zu ersetzen. Diese selbstgewählte Bestandszahl war, wie er zugab, eine Art persönlicher Marotte, aber sie berücksichtige die räumliche Begrenzung.« Dem Erwerb der Bibliothek von Wilhelm Badenhop durch das DLA gingen persönliche Gespräche zwischen dem Sammler und dem DLA-Direktor Bernhard Zeller voraus. In seinen Marbacher Memorabilien erzählt Zeller weiter:


»Unsere Gespräche in Wuppertal wie in Marbach, drehten sich sehr bald um die Frage, wie diese Bibliothek als Ganzes erhalten und als Ganzes der Marbacher Archivbibliothek einverleibt werden könnte. Da aber auch der Sachverstand und die Verbindungen des Sammlers selbst mit einbezogen, ja transferiert werden sollten, kam nach mancherlei Verhandlungen, auch innerhalb des Vorstands, eine ungewöhnliche Regelung zustande und wurde ein reichlich unkonventioneller Vertrag ausgehandelt, der in späteren Jahren wohl an den bürokratischen Barrieren gescheitert wäre. Wilhelm Badenhop, so wurde nämlich vereinbart, sollte seine Bibliothek geschlossen dem Deutschen Literaturarchiv übertragen, seinen Hauptberuf aufgeben, zusammen mit seiner Frau nach Marbach übersiedeln und als Bibliothekar in die Dienste der Deutschen Schillergesellschaft treten. Seine Mitarbeit sei durch die Raten einer laufenden Abbezahlung des materiellen Wertes seiner Bibliothek zu vergüten, die damit Schritt für Schritt in das Eigentum des Deutschen Literaturarchivs übergehen werde. Der Vertrag wurde im Januar 1960 unterzeichnet; er war für das Haus ein Gewinn und bedeutete für Badenhop gleichsam die Erfüllung eines Traumes.


Im Laufe des Jahres wurde die Umsiedlung vorbereitet, eine Wohnung in Marbach gemietet und eingerichtet, die Bibliothek selbst verpackt. Mitte Januar 1961 sollte der Transport erfolgen. Da erreichte uns am 11. Januar das Telegramm: »Wilhelm Badenhop plötzlich gestorben.« Ein Herzkrampf hatte dem Leben des 58jährigen wenige Tage vor dem Umzug ein jähes Ende gesetzt.«


Trotz Badenhops erwähnter Selbst-Beschränkung auf 2.200 Exemplare in seiner Sammlung verzeichnet der Marbacher Online-Katalog heute 2.644 Bücher aus seinem Besitz auf der Schillerhöhe . Darunter sind auch die im Beitragsbild gezeigten Erstausgaben von Albert Ehrenstein, den Badenhop sehr schätzte.


Dietmar Jaegle

 

Beitragsbild: Bücher von Albert Ehrenstein aus der Sammlung Badenhop. Foto: DLA Marbach (Rica Burow).

  1. Brief an Otto Soyka, vermutlich im Juni 1910. []

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