In seinem Essay Gernelesen. Plädoyer für einen Abbau von Distanz, einem Beitrag zur Frage ›Kommt die Literaturwissenschaft abhanden?‹, kritisiert Johannes Franzen die Distanz zwischen der wissenschaftlichen Disziplin und dem kulturellen Leben der Gegenwart. Studierende der Literaturwissenschaft lesen gerne, heißt es, nur studieren sie nicht das, was sie gerne lesen, denn das, was gerne gelesen wird, entspricht nicht den kulturellen Maßstäben von ›hoher Literatur‹. Gernelesen ist schambehaftet, so viel dringt durch, zumindest in der Welt der Wissenschaft. Ich habe Franzens Essay gerne gelesen und will hier einige der dort entwickelten Gedanken aufgreifen, über dieses ›Gernelesen‹ in Bezug auf Lyrik nachdenken, und schließlich auch die Frage aufwerfen, was passiert, wenn nicht nur der Gegenstand der Literaturwissenschaft gerne gelesen wird, sondern auch die Wissenschaft selbst.
Franzens Argument ist nicht genrespezifisch, aber diese Distanz, die er am Beispiel von Prosatexten beschreibt, bestätigt sich, wenn es um das Lesen von Lyrik geht. Gedichte, die den Weg in die Seminarräume schaffen, werden oft nicht nur selbst als notorisch unzugänglich behandelt, sondern auch verpackt in wissenschaftliches Vokabular, das weit entfernt ist von einer Sprache, die sagt: ›das hier geht mir nahe‹, ›dies berührt mich‹, ›das hier stößt mich ab‹. Dabei arbeitet gerade Dichtung oft mit Aspekten, die das Gernelesen ausmachen – Sinnlichkeit, Genuss und Begehren. Gerade Dichtung ruft aber auch negative Affekte hervor, wie das Unwohlsein oder die peinliche Berührtheit ausgelöst durch Kühlschrankmagneten-Kitsch und leeres Pathos. Als Gegensatz zur Lyrik der Seminarräume fallen hier Poetry Slams ein, allen voran das Massenphänomen Julia Engelmann, deren Vortrag beim Bielefelder Hörsaalslam 2013 knapp zehn Jahre später bereits über 13 Millionen Mal auf YouTube angesehen wurde. Die Distanz zwischen literaturwissenschaftlicher Disziplin und dem kulturellen, sozialen und politischen Leben ließe sich sicher aufbrechen, wenn man den Gegenstand selbst erweitern und den Genuss von 13 Millionen ernst nehmen würde. Nicht als Maßstab dafür, welche Literatur nun wirklich gut sei, sondern als eine Form gesellschaftlicher Erfahrung von Literatur, die es wert ist, Gegenstand der Wissenschaft zu sein. Gleichzeitig ist es aber auch ein Problem, wenn man annimmt, dass jene Gedichte, die es in die Hörsäle schaffen (für Vorlesungen, nicht Slams) keine Relevanz oder keinen Bezug für Menschen haben, die nicht in der Literaturwissenschaft arbeiten. Samira El Ouassil betonte dies kürzlich in ihrer Spiegel-Kolumne, wo sie unter dem Titel Poesie für Krisenzeiten über die gesellschaftliche Relevanz von Dichtung nachdenkt. Sie bringt das Beispiel ihrer Großmutter an, die Analphabetin ist, aber spürt, wovon Paul Celans Todesfuge spricht, wenn ihre Enkelin ihr das Gedicht vorliest.1
Dichtung ist, wie Celan selbst betonte, Begegnung– und sicher nicht nur mit Vertreter/-innen der Literaturwissenschaft. Und auch sonst ist es nicht unbedingt der Fall, dass die Lyrik der Seminarräume notwendigerweise von der Gegenwart Abstand hält. Das Rilke-Projekt von Schönherz & Fleer etwa bringt seine Gedichte in Konzertsäle, und erst kürzlich – danke hier an meine Studierenden für den Hinweis – zitierte die HBO Hit-Serie Euphoria eines der Sonette an Orpheus, was wiederum zu einer Reihe an Posts zum Hintergrund des Gedichtes führte. Die Fähigkeit zum Spagat zwischen ›hoher‹ Literatur und Pop-Kultur, zwischen wissenschaftlichem Anspruch und Genuss mag der Offenheit und Weite von Rilkes Lyrik geschuldet sein. Es mag uns auch zu einer Debatte über Kitsch und Kommerzialisierung führen.
Stattdessen an dieser Stelle aber noch ein anderes aktuelles Beispiel, das auch in der oben genannten Kolumne von El Ouassil zentral war: Angestoßen durch den Auftritt der US-amerikanischen Lyrikerin Amanda Gorman bei der Amtseinführung von Präsident Biden hat im Januar 2022 der Vorschlag von Mithu Sanyal, Dmitrij Kapitelman und Simone Buchholz, Deutschland brauche eine Parlamentspoetin, zu einer breiten Diskussion über die gesellschaftliche und politische Rolle und Relevanz von Dichtung angeregt. (Simone Buchholz, Dmitrij Kapitelman, und Mithu Sanyal, Dichterin gesucht. Die Politik poetische, die Poesie politischer machen: Deutschland braucht eine Parlamentspoetin, Süddeutsche Zeitung, 4. Januar 2022, Abschn. Feuilleton. Politik soll poetischer und die Poesie politischer werden, so der – verkürzte – Aufruf der Autor/-innen. Tatsächlich scheint die Poesie der Gegenwart diesem Anspruch bereits zu folgen. Nachdem die Lyrik der 00er -Jahre durch Distanz zu Politik und Emotion gekennzeichnet war, wenden sich gegenwärtige Dichter/-innen diesen Bereichen mit Nachdruck zu. Der Lyriker Max Czollek etwa setzt sich für neue Dichtung ein (und schreibt sie auch selbst), die eine aktive Auseinandersetzung mit Geschichte einfordert, alte Muster aufbricht und neue denkbar macht.2 Die Lyrikerin Lea Schneider hat in ihrem in der Edition Poeticon des Verlagshaus Berlin veröffentlichten Band Scham über Gegenwartslyrik nachgedacht, in der das Thema Liebe nicht nur, wie in den 00er-Jahren in einem »Stahlbad der Ironie« vorkommt, sondern selbst zum politischen Akt wird.3
Aber vielleicht bleibt gerade hier die Literaturwissenschaft hinter ihrem Gegenstand zurück. Vielleicht zeigt sich die Distanz zwischen Literaturwissenschaft und ihrem Gegenstand nicht nur, oder nicht vorrangig darin, welche Texte in den Seminarräumen behandelt werden, sondern wie sie behandelt werden, das heißt, in der Art und Weise wie wir über Lyrik schreiben, nachdenken, und darüber Wissen produzieren. Vielleicht muss die Wissenschaft von ihrem Gegenstand lernen. Vielleicht muss sie aus dem Stahlbad akademischer Rhetorik treten und die Distanz zwischen ihrem eigenen Modus des Schreibens und Denkens und dem ihres Gegenstandes selbst verringern. Dichtung ist soziales und oft politisches Ereignis, das auch mit Leidenschaft, Genuss und Interaktion zu tun hat.
Was wäre, wenn die Literaturwissenschaft sich diesen Elementen annähern würde? In der US-amerikanischen Literaturwissenschaft wird etwa autotheoretisches Schreiben vermehrt in seinem wissenschaftlichen Wert anerkannt. Die Literaturwissenschaftlerin Anahid Nersessian hat kürzlich mit ihrer Studie Keats Odes. A Lovers Discourse eine Neuinterpretation von Keats Oden –unter Einbeziehung persönlicher Erfahrungen – als Diskurs einer Liebenden vorgelegt.4 Literaturwissenschaftliche Analyse berührt hier persönliche Fantasien, Träume, Erinnerungen. Berührt sie dabei nicht auch ihren Gegenstand selbst neu?
Es mag unangenehm und potenziell beschämend sein, die bekannte Sprache der Wissenschaft los- und sich auf etwas Neues einzulassen – und ob man diesen Schritt gehen kann, hängt auch mit Privilegien zusammen. Jemand der sich in der Welt der Wissenschaft unter prekären Arbeitsbedingungen oder auf Grund einer marginalisierten Position beweisen muss, riskiert mit solchem Schreiben mehr als andere, deren Position innerhalb der Institution bereits gesichert ist. Wenn man es aber wagt, mag es vielleicht auch die Erfahrung mit sich bringen, dass die Literaturwissenschaft sich ihrem Gegenstand anders nähern kann, als Sprache der Liebe, als Axt für das gefrorene Meer in uns, wie Kafka die Wirkungskraft von Literatur beschrieben hat. Wie beunruhigend wäre das, wie aufregend, wie schön – und dem Gegenstand der Literaturwissenschaft so angemessen.
Simone Stirner, Vanderbilt University
- Samira El Ouassil, Poesie für Krisenzeiten, Spiegel Kultur (Online), 13. Januar 2022, https://www.spiegel.de/kultur/parlamentspoesie-waere-eine-bereicherung-a-afce62a5-2df5-4cdd-9dfe-58f20d1211fb?sara_ecid=soci_upd_KsBF0AFjflf0DZCxpPYDCQgO1dEMph. [↩]
- Max Czollek, Dealing with the Present, Samplekanon (blog), 24. April 2013, https://samplekanon.com/max-czollek-dealing-with-the-present/. [↩]
- Lea Schneider, Scham, Berlin 2021, S. 9. [↩]
- Anahid Nersessian, Keat’s Odes: A Lover’s Discourse, Chicago /London 2021. [↩]