Briefwechsel als Quellen philosophischer Forschung

Denken in Briefen

Briefwechsel als Quellen philosophischer Forschung

von Wolfgang Hellmich (Tübingen)

Briefe von Philosoph/innen können unterschiedliche Funktionen haben. Sie können dem Austausch über Gedanken und Werke dienen. Das ist ihre kommunikative Funktion. Sie können aber auch strategisch eingesetzt werden: um sich als Autor/in in einem literarischen Feld zu positionieren oder um Netzwerke zu bilden. Eine Funktion scheint heute, im Zeitalter der E-Mails und der sozialen Medien, kaum mehr eine Rolle zu spielen, die noch etwa für Walter Benjamin wichtig war. Nach seiner Brieftheorie bekundet der Brief das »intelligible Leben« eines Schreibenden. Der Brief ist für Benjamin nicht nur eine Form der Kommunikation, sondern Teil einer Lebens-, einer Existenzform.1


Adorno berichtet, dass für Benjamin sogar die Wahl des Papiers eine wichtige Rolle spielte. Noch in der Emigrationszeit benutzte er eine bestimmte Sorte, erst gegen Ende seines Lebens lockerte sich sein Anspruch.2 Im Falle Benjamins  spielt zudem eine Rolle, dass ihm die briefliche Kommunikation half, die eigene Isolation zu bewältigen. Vermittels des Briefeschreibens hielt er Anschluss an den intellektuellen Diskurs. Auch Max Weber diente das Briefeschreiben dazu, Distanz zu überwinden. Nachdem er aus gesundheitlichen Gründen sein Professorenamt niederlegen musste, trat er über das Briefeschreiben in einen regen akademischintellektuellen Austausch mit ehemaligen Kollegen. Über das Medium des Briefes versuchte er auch, Einfluss auf Berufungsentscheidungen zu nehmen.


Briefe von Philosoph/innen sowie Wissenschaftler/innen können einmalige geschichtliche Zeugnisse sein. In ihnen bekundet sich der soziale Habitus einer Person. Hier zeigt sich eine Person, wie sie ist oder wie sie sein, wie sie wahrgenommen werden möchte, wie sie nach ihrem Tod erscheinen will. Manchmal sind die Briefe von Philosoph/innen und Wissenschaftler/innen erhellend, manchmal enttäuschend, wenn sich zum Beispiel zeigt, wie jemand nur am eigenen Fortkommen interessiert ist, gezielt für sich wirbt und um Protektion bittet. Briefe vermitteln einen Einblick in den Charakter einer Person, sie zeigen, wie sie ist und was sie denkt, und manchmal zeigen sie Autor/innen von einer Seite, die auch ein Licht auf deren Werk wirft. Briefe können ein besseres Werkverständnis ermöglichen.


Auf das Briefeschreiben wird relativ viel Zeit verwendet. Es ist in den Tagesablauf integriert. Abschriften oder Kopien der Briefe sowie die Antworten darauf werden mitunter aufbewahrt. Das Briefeschreiben gehört zur Lebensform von »Geistesarbeiter/innen«, allerdings solchen der Vergangenheit. Frühere Generationen haben viele Briefe geschrieben. Briefe waren das zentrale Kommunikationsmedium. Descartes und Leibniz waren exzessive Briefschreiber, Spinoza, Schopenhauer. Adorno war ein fleißiger Briefeschreiber, von Benjamin sind ca. 1.400 Briefe überliefert, Max Weber hat ein umfangreiches Briefwerk von rund 2.000 Briefen hinterlassen, Hans Blumenberg pflegte einen intensiven Briefaustausch, auch Günther Anders. Die Verlage publizieren noch immer regelmäßig Briefbände. Ein Ende ist nicht abzusehen. Das Literaturarchiv in Marbach etwa verwaltet rund 1.600 Nachlässe und Sammlungen von Schriftstellern und Gelehrten auch aus der Philosophie und den Geisteswissenschaften. Wenn die Nachfrage anhält, ist noch über Jahrzehnte für Nachschub gesorgt. Zwar ist der Brief als Kommunikationsmedium durch E-Mails und Kurznachrichten abgelöst worden, aber er ist nicht verschwunden. Historisch gesehen ist es meist so, »dass die ›alten‹ Kommunikationsformen neben den ›neuen‹ erhalten bleiben. Selten verschwinden Kommunikationsformen ganz, wie z.B. Telegramme.«3 Die Briefforscherinnen Schnitzer und Ziegenhain erklären den Wandel der Kommunikationsformen mit dem Streben des Menschen nach Effizienz. »Deshalb fahren wir heute überwiegend mit dem Auto oder nutzen den Flugverkehr und lassen uns nicht mehr in Pferdegespannen kutschieren. Zu besonderen Anlässen wird die Kutsche jedoch wieder benutzt (z.B. Hochzeit) […]«.4


Eine wichtige Frage ist, ob Briefe überhaupt als eigenständige oder wenigstens komplementäre »Werke« betrachtet werden können und dementsprechend verarbeitet werden dürfen. Briefe sind in der Regel nicht für die Öffentlichkeit, sondern lediglich für eine einzelne Person bestimmt; nur der Adressat ist zum Lesen berechtigt. Briefe sind auf eine andere Art und Weise verfasst als Texte, bei denen eine Publikationsabsicht von vorneherein feststeht. Sie sind in der Regel nicht überarbeitet, spiegeln eine momentane »Stimmung« wider, sind von Wahrnehmungen und Emotionen beeinflusst. Ein zu publizierender Text hingegen ist meist »kalkuliert«. Emotionen oder Präferenzen sind nur in bedingtem Maße vorhanden. Ein wissenschaftlicher Text sollte frei von Werturteilen sein. Briefe hingegen sind ein werte- und meinungsorientiertes Textgenre. Briefe können insofern dem wissenschaftlichen Werk einer Autorin oder eines Autors zuwiderlaufen. Briefe können einen verfälschenden Eindruck vermitteln. Was sie an momentaner Persönlichkeit widerspiegeln, muss nicht die Persönlichkeit als solche sein. Briefe unterliegen dem Einfluss einer sich fortlaufend verändernden individuellen, gesellschaftlichen und politischen Lage. Positionen, die in einem Brief bezogen werden, müssen keine dauerhaften Positionen sein. Insofern sind Briefe eine unsichere und relative Erkenntnisquelle, die bei demjenigen, der damit arbeitet, die Einhaltung von besonderen Sorgfaltspflichten verlangt. Eine Position, die ein Briefschreiber bezieht, muss kontextuell gelesen und abgeglichen werden, bevor sie als Position klassifiziert wird.


Doch auch bei Einhaltung der Sorgfaltspflicht bleibt die grundsätzliche Frage bestehen, ob Briefe, die einen bestimmten, nur einen Adressaten haben, für die Allgemeinheit zugänglich sein dürfen. Kriterium könnte sein, wie sich die Autorin bzw. der Autor dazu erklärt hat. Wenn Briefe aufbewahrt und gesammelt werden, könnte darin eine indirekte Erlaubnis zu einer späteren Publikation gesehen werden. Es ist jedoch ein ethischer Grenzbereich, in dem sich potenzielle Herausgeber/innen bewegen. Der erklärte Wille der Autorin bzw. des Autors sollte entscheidend sein. Briefe können von erheblichem Nutzen sein. Sie können ein anderes oder neues Licht auf ein Werk werfen. Sie können einen »inkommensurablen Erkenntniswert« haben, so der Literaturwissenschaftler Heinrich Kaulen.5 Das wäre zu spezifizieren. Briefe vermitteln in der Regel ein authentisches Bild von einer Persönlichkeit. Sie zeigen verschiedene Seiten einer Person oder eine Seite, die in den zur Publikation freigegebenen Texten verborgen bleibt. Sie können eine Erklärung dafür bieten, warum etwa eine Autorin oder ein Autor in einem publizierten Text für eine bestimmte Position streitet. Sie können über Hintergründe aufklären und runden damit das Bild von einer Autorin oder einem Autor ab.


Ausschnitt aus: Wolfgang Hellmich: Denken in Briefen. Briefwechsel als Quellen philosophischer Forschung. In: Philosophisches Jahrbuch 131. I (2024) 1). S. 116–123. DOI: 10.5771/0031-8183-2024-1-116. – Autor und Verlag danken wir für die Abdruckgenehmigung.


Beitragsbild: Schreibmaschine Triumph-Adler Primus von Reinhart Koselleck. Foto: DLA (Chris Korner).

  1. Heinrich Kaulen: Walter Benjamin: Briefschreiber, Sammler und Theoretiker des Briefs, in: Marie Isabel Matthews-Schlinzig / Jörg Schuster / Gesa Steinbrink / Jochen Strobel, Hrsg., Handbuch Brief, Bd. 1, Berlin/Boston: de Gruyter 2020, 1415–1429 (1428). []
  2. Theodor W. Adorno: Benjamin, der Briefeschreiber (1966), in: Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 11. Noten zur Literatur, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, 583–590. []
  3. Caroline Schnitzer / Rosina Ziegenhain: Neuere Kommunikationsformen im Vergleich zum Brief, in: Marie Isabel Matthews-Schlinzig / Jörg Schuster / Gesa Steinbrink / Jochen Strobel, Hrsg., Handbuch Brief, Bd. 1, Berlin/Boston: de Gruyter 2020, 1508–1517 (1515). []
  4. Schnitzer/Ziegenhain, 1515. []
  5. Heinrich Kaulen, 1424. []

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