Wasyl Stus starb 1985 in einem sowjetischen Lager in Sibirien, wenige Tage nachdem bekannt wurde, dass er für den Nobelpreis für Literatur vorgeschlagen worden war. Es gibt begründete Vermutungen, dass er bewusst von der Lagerleitung getötet wurde, um einen Skandal zu vermeiden.
Vor wenigen Wochen, gleich nach dem Beginn des Krieges Russlands gegen die Ukraine, wurde ein anderer ukrainischer Dicher, Serhij Zadan, für den Nobelpreis für Literatur vorgeschlagen. Serhij Zadan lebt in Charkiw und ist auch jetzt dort, in Gefahr, im Krieg. Er hilft der ukrainischen Armee Charkiw zu verteidigen, sammelt Geld, kauft Medikamente und Schutzwesten. Regelmässig nimmt er Videos auf, wo er seine Gedichte liest.
Wasyl Stus wurde in der Nähe von Donetsk geboren. Er war Literaturwissenschaftler von Beruf und gehörte zur Dissidentenbewegung, die sich aktiv gegen die Unterdrückung der ukrainischen Kultur einsetzte. Die Unterdrückung hatte verschiedene Formen. In den 30er-Jahren vernichtete man in der Sowjetunion hunderte von ukrainischen Intellektuellen nach Schauprozessen, in denen sie der Spionage beschuldigt worden waren.
In den 50er-Jahren reichte es, die damals verbotene ukrainische Flagge zu Hause zu haben, um zu 25 Jahren Gefängnis in Sibirien verurteilt zu werden. Wer verbotene ukrainische Texte besaß, zum Beispiel mit Schreibmaschine geschriebene Volkslieder, dem drohten ebenfalls 25 Jahren Gefängnis in Sibirien – oder sogar die Todesstrafe. Die jüngsten ›Nationalisten‹, die für ähnliche Taten erschossen wurden, waren nicht mal 18 Jahre alt. Ihre Namen kann man in Lemberg auf einer Säule lesen, die vor dem Eingang zur ukrainischen Gedenkstätte ›Memorial‹ steht. Das ›Memorial‹ trägt auch den Namen von Wasyl Stus.
Der Fall von Wasyl Stus machte in den letzten Jahren wieder Schlagzeilen. Ein ukrainischer Historiker und Journalist entdeckte in den Gerichtsakten, dass Stus bei seinem letzten Prozess 1980 einen Anwalt hatte. Dieser Anwalt heißt Wiktor Medwedchuk – er gehört heute zu den reichsten Leuten des Landes und ist ein bekannter Oligarch. Damals forderte er als Anwalt für den »antisowjetischen Nationalisten« Stus eine höhere Strafe als die vom Staatsanwalt beantragte. Darüber ist ein Buch erschienen; Medwedchuk versuchte, das Buch verbieten zu lassen. Er gewann zwar vor Gericht, konnte aber nichts tun, da die neu gedruckten Auflagen des Buches binnen Stunden ausverkauft waren. Am 12. April 2022 meldete der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski, dass Medwedchuk vom ukrainischen Geheimdienst SBU verhaftet wurde.
Im Gefängnis schrieb Wasyl Stus Gedichte und Prosa und übersetzte unter anderem Texte von Rainer Maria Rilke, Paul Celan, und Gottfried Benn.
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Foto Natalka Sniadanko: Katheryna Slipchenko.