In Wirklichkeit fing dieser Krieg wesentlich früher an

Auf den 30. Juli 1863 ist die erste geheime Verordnung des Innenministers des Russischen Imperiums datiert, mit der die ukrainische Sprache per Gesetz verboten wurde. Zuerst verbot man die Veröffentlichung ukrainischsprachiger Schulbücher und Bildungsmaterialen, dann auch alle anderen Publikationen auf Ukrainisch (samt literarischer Texte). Das führte dazu, dass Bücher auf Ukrainisch nur in den westlichen Teilen der Ukraine gedruckt wurden, die damals zum Habsburger Reich gehörten. Diese Bücher schmuggelte man nach Osten.

 

Das alles wiederholte sich nach über hundert Jahren, zu der Zeit als die gesamte Ukraine zur Sowjetunion gehörte und bestimmte Veröffentlichungen auf Ukrainisch wieder (oder immer noch) per Gesetz verboten wurden. Man druckte Verbotenes in Europa und schmuggelte es über die polnische Grenze. Zuerst in den Westen des Landes, dann weiter. So kam es, dass in der älteren Generation viele westukrainische Intellektuelle fließend Polnisch konnten. ? Viele haben bis heute einst verbotene und geschmuggelte Texte zu Hause.. Eins dieser Bücher bekam auch ich geschenkt. Es war die Übersetzung eines Texts von T. S. Eliot, aus dem Buchumschlag herausgerissen und in einen neuen Umschlag montiert. Der neue Umschlag heißt »Mit dem Glauben in unsere glückliche kommunistische Zukunft«.

 

Es folgten weitere Verbote der ukrainischen Sprache und Kultur. Eine typische Strafe für die oppositionellen ukrainischen Dichter des 19. Jahrhunderts war die Verbannung samt Verbot zu schreiben und sogar zu malen. Widerstand war weit verbreitet. Manche ukrainischen Schriftsteller sahen es als ihre Hauptaufgabe an, ihre Sprache zu schützen, und wollten, dass ukrainische Literatur auch in breiten Bevölkerungsschichten gelesen wird. Um diese zu erreichen, schrieben sie bewusst einfach. So dachte zum Beispiel Iwan Franko, einer der bekanntesten ukrainischen Schriftsteller und Wissenschaftler. Andere, wie zum Beispiel die aus der Bukowyna stammende Olha Kobylanska, wollten das Gegenteil – dass die ukrainische Literatur die neusten Entwicklungen der europäischen Literatur mitmacht und nicht nur volkstümlich, sondern modern wird. Die Muttersprache von Olha Kobylanska war übrigens Deutsch. Sie hat als bereits erwachsene Frau Ukrainisch gelernt und bewusst ihre Texte auf Ukrainisch geschrieben.

 

Dies wiederholte sich im 21. Jahrhundert, als nach 2014 manche in der Ukraine lebenden russischsprachigen Schriftsteller vor dem Krieg geflohen sind und dann bewusst ihre Texte weiterhin auf Ukrainisch schrieben. Und weiter schreiben.

 

All diese Verbote hatten ein ganz klares Ziel – die ukrainische Sprache zu vernichten (was mit der belarussischen fast gelungen ist) und den Mythos zu konstruieren, das Ukrainisch sei nur ein Dialekt des Russischen. Dieser Mythos wird auch heute sehr oft von der russischen Propaganda genutzt. Immer noch behauptet Russland, in der Ukraine Nationalisten zu vernichten und die russischsprachige Bevölkerung zu schützen. Stattdessen ruiniert die russische Armee stark russifizierte Städte, tötet russischsprachige Kinder und Erwachsene, vergewaltigt russischsprachige Frauen und plündert in besetzten Gebieten, stolz nach Hause berichtend, dass so und so viele T-Shirts, Parfum-Flaschen oder Laptops geklaut wurden. Das mit den Laptops ist besonders bequem – man braucht nicht mal die Spracheinstellung zu ändern, ist ja bereits alles auf Russisch.

 

Beitragsbild

Foto Natalka Sniadanko: Katheryna Slipchenko.

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