Hinter klugen Verlagsprogrammen steckt meist nicht nur ein kluger Kopf, sondern ein Kollektiv kreativer Köpfe. Das war in der bildungsbürgerlichen Ära des ›großen Mannes‹ nicht anders. Ernst Rowohlt, Samuel Fischer und andere große Verleger hatten ein Netzwerk aus Mitarbeitern und Informanden hinter sich, die Programmlinien erdachten, literarische Trends erspürten, auf Vergessenes oder Unbekanntes hinwiesen und die großen Visionen lieferten. Die Archive legen das Akteur-Netzwerk und damit die Mechaniken frei, die hinter den Programmen wirkten: wie Autor:innen akquiriert, Themen gesetzt und Reihen auf den Weg gebracht wurden – und wie das Publikum durch sein Leseverhalten letztlich alles bestimmte. All das ist in Form von Gutachten, Leser-Zuschriften, Buchbestellungen, Honoraren, Bilanzen, erworbenen und verkauften Lizenzen, Übersetzungen und anderem in den Verlagsarchiven bewahrt.
Dessen ungeachtet ist es die Autor-Verleger-Dyade, die bis heute fasziniert und in Form von Briefeditionen ein Lesepublikum findet. In den Briefen wurde nicht nur die eigene literarische Produktion verhandelt, sondern Verlagspolitik gemacht. Autoren wie Albrecht Schaeffer, Hugo von Hofmannsthal und Stefan Zweig beeinflussten durch die Übernahme von Lektorats-, Agenten-, Berater- und Herausgebertätigkeiten die programmatische Ausrichtung des Insel Verlags. Zentrale Figur über Jahrzehnte hinweg war der Erfolgsautor Stefan Zweig. Mit Zweig und dem Insel Verleger Anton Kippenberg trafen ein Kosmopolit und ein national gesinnter Konservativer aufeinander. Bei allen politischen Divergenzen trafen sie sich in ihrer Liebe für klassische Literatur aller Sprachen und Zeiten.
Im Zeitraum von 1918 bis 1923 ist ihr Briefwechsel von einem Großprojekt bestimmt: der Buchreihe ›Bibliotheca mundi‹. Werke der Weltliteratur in Originalsprachen sollten sich in einer ›Weltbibliothek‹ unter dem Dach des Insel Verlags vereinen. Gegen anfängliche Widerstände des Kriegsteilnehmers Kippenberg setzte sich Zweig mit seiner Idee einer internationalen Literatur für eine unpolitische Geisteselite durch. Die Überlieferung der Geschäftsunterlagen und der persönlichen Autor-Verleger-Korrespondenz – in getrennten Archiven überdauerten sie die deutsche Teilung – erlaubt es, die Planung und Umsetzung dieses Projekts zu rekonstruieren.

Am 27. Februar 1919 entwickelte Zweig in einem Brief an seinen Verleger zum ersten Mal die Idee, internationale Literatur zum Gegenstand einer umfassenden Buchreihe zu machen. »Jetzt könnte man in Deutschland einen schönen Balzac, Baudelaire, Byron, Anthologien bringen denn es werden Jahre vergehen, glauben Sie mir, ehe man schöne Bücher infolge der Cursdifferenz wird vom Ausland beziehen können. Jetzt wäre der Augenblick, in Deutschland mit einer erlesenen, und erlesen gedruckten Bibliothek der dauernden Bücher des Auslands zu beginnen.« Kippenberg ließ sich von dem ökonomischen Argument überzeugen. Für Zweig war das Vorhaben mit großen Ideen verbunden: mit kultureller Bildung, Völkerfrieden und Versöhnung. Bei einem Treffen in Leipzig im Oktober 1919 legten sie alle Einzelheiten des Projekts fest.
Zweigs expliziter Bezug auf Goethe und dessen Begriff von Weltliteratur fiel beim Goethe-Enthusiasten Kippenberg auf fruchtbaren Boden. Er vermochte ihre gegensätzlichen Vorstellungen zu überbrücken. Es sind Schlüsselbegriffe wie ›Dauerhaftigkeit‹, ›Zeitlosigkeit‹, ›Geschlossenheit‹ und ›Vollkommenheit‹, die im Briefwechsel immer wieder fallen. Heute fällt die Zeitbedingtheit ins Auge: Was ist das für ein Begriff von Weltliteratur, wenn sie an den Grenzen Europas endet? Welche Idee von Geist steckt hinter diesem Ganzheitsphantasma? Wird das ›kanonische Werk‹ als Repräsentant einer Nationalkultur konzeptualisiert? Beeindruckend ist aus heutiger Perspektive, dass der Insel Verlag mit mehrsprachig sozialisierten Leser:innen rechnete, denen man zutraute, eine Buchreihe mit Werken u.a. in englischer, französischer, russischer und hebräischer Sprache zu kaufen.
Doch die Weltbibliothek wurde zum Ladenhüter. Obwohl die ersten Bände, die Ende 1920 auf den Markt kamen, auch international lobend aufgenommen wurden, stellte sich bald Ernüchterung ein. Nationale Ressentiments des Buchhandels, Inflation, schwache Absatzzahlen im Auslandsbuchhandel und fehlendes Kaufinteresse belasteten die Bilanzen. Schon im Herbst 1923 stufte Kippenberg die Weltbibliothek als einen wirtschaftlichen Fehlschlag ein. Zweig gestand in Anbetracht der Lage: »Ebenso wie ich Ihnen vor drei Jahren leidenschaftlich zugeraten habe ausländische Literatur zu bringen, so würde ich Ihnen heute auf das eindringlichste abraten.« (Brief vom 15. Oktober 1923). Nach zwanzig Bänden wurde die ambitionierte Reihe eingestellt.

Für die 20er-Jahre war das Unternehmen ein Weg in die Weimarer Republik und in einen gemeinsamen Kulturraum Europas. In den 30er -Jahren wurden Zweigs Bücher in Deutschland verbrannt. Der Insel Verlag trennte sich von seinem jüdischen Autor. Im Jahr 1940 verließ Zweig europäischen Boden und ging ins Brasilianische Exil. Noch vor dem Ende des zweiten Weltkriegs nahm er sich das Leben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Archiv des Insel Verlags infolge der deutsch-deutschen Teilung auf verschiedene Standorte verteilt. Durch ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziertes, kooperatives Erschließungsprojekt zwischen dem Goethe- und Schiller-Archiv Weimar und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach wird der geteilte Bestand nun virtuell wieder vereint.
Gunilla Eschenbach
Blogbeitrag des Goethe- und Schillerarchivs zum Thema
›Geteilte Überlieferung. Der Insel-Verlag im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar
und im Deutschen Literaturarchiv Marbach‹
https://www.klassik-stiftung.de/goethe-und-schiller-archiv/projekte/insel-verlag/