Singen! Lied und Literatur. 3. Natur

In der Natur bekommen manche Menschen Lust zu singen. Mit Liedern kann man sich selbst und andere beim Wandern bei Laune halten. Doch nicht immer ist die Erinnerung daran positiv besetzt. Rückblickend war dem Philosophen Theodor W. Adorno (1903–1969) das Singen in der Natur verhasst, das sein Vater den Familienmitgliedern beim Wandern abverlangt hat. Das angeordnete Singen störte Adorno ebenso wie das Sentimentale der deutschen Naturliebe. Das Naturlied besingt einen Sehnsuchtsort, ein Refugium abseits der ausgreifenden Industrialisierung. Man kann sich fragen, ob das Naturlied nicht schon immer etwas Unechtes an sich hatte. Sicher war es so in der Wandervogelbewegung, im NS-Lied und im Lied des

Heimatfilms der 50er-Jahre.


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Ausgesprochen kunstvoll ist Johannes Brahms’ (1833–1897) Schiller-Vertonung Der Abend (1874). Text und Musik feiern in altgriechischer Metrik den Sonnenuntergang. 1929 erwarb das Marbacher Schillermuseum dieses Autograph für seine Sammlungen. Sogar der Umschlag ist erhalten, in dem Brahms das Autograph an den Frankfurter Kapellmeister Georg Goltermann (1824–1898) als Geschenk schickte. Der erste Brahms-Biograph Max Kalbeck (1850–1921) weiß zu berichten, dass Brahms mit seinen Vokalquartetten die mehrstimmige Hausmusik fördern wollte, um von der Untugend des Sololieds abzulenken, welches nur der Eitelkeit der Solisten diene. Aus heutiger Perspektive erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass sich gleich vier versierte Sänger in einem Haushalt zusammenfinden, um anspruchsvolle Chorlieder aufzuführen. Die heutige Aufführungssituation dieses Werkes ist der Konzertsaal.

 

Gunilla Eschenbach


Beitragsbild: Friedrich Schiller, Der Abend, komponiert von Johannes Brahms, op. 64 (Drei Quartette) Nr. 2, 1874. Foto: DLA Marbach.


Auszug aus dem Marbacher Magazin 181.182 Singen! Lied und Literatur, das die gleichnamige 

Ausstellung begleitet. Ab Ende September erhältlich in unserm Shop www.dla-marbach.de/shop/ oder im Buchhandel.


#LiteraturBewegt wird gefördert von der Kulturstiftung des Bundes und dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg.

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