Exil-Bestände der Bibliothek ergänzt

Bei retrospektiven Bestandsergänzungen muss die Erwerbung in zweierlei Hinsicht suchen: zum einen nach Lücken, die bei dichten Beständen nicht auf den ersten Blick erkennbar sind – dabei können Bibliografien wie das Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil von Renate Wall (Gießen, 2004) helfen –, und zum anderen nach antiquarischen Angeboten, die diese Lücken schließen könnten. Manche im Exil erschienenen Werke werden nicht so oft angeboten, wie man sich das als sammelnde Institution wünschen würde. Häufig unter schwierigen Bedingungen und deshalb in nur kleinen Auflagen oder im Selbstverlag herausgegeben, sind sie naturgemäß rar und / oder in Deutschland schwer zu bekommen, da nur im Exil-Land verbreitet (auf das Thema Zoll soll hier nicht eingegangen werden). Nach manchen Titeln muss darum lange und ausgiebig gesucht werden. Umso größer ist die Freude, wenn man sie eines Tages dann doch auf einer Verkaufsplattform entdeckt oder sie mit Hilfe von Katalogen und Angebotslisten spezialisierter Antiquariate ins Haus kommen. Die Bücher bezeugen eine trotz problematischer Lebensumstände ausdauernde literarische Produktivität und die intensive Beschäftigung der Autorinnen und Autoren mit ihrer neuen Lebenssituation und dem Weltgeschehen. Auch äußerlich sieht man manchen Exemplaren ihre bewegte Geschichte an.


Unter den jetzt ergänzten Autorinnen ist Anna Maria Jokl, 1911 in Wien geboren, die in den 20er-Jahren mit ihrer Familie nach Berlin kam und 1933 nach Prag fliehen musste. Hier erschien 1937 ihr Kinderbuch Die wirklichen Wunder des Basilius Knox in tschechischer Übersetzung von Marie Přikrylová (Basilius Knox: román pro děti od 10 do 70 let, auf Deutsch erst 1948 erschienen). Ihre Flucht führte sie 1939 weiter nach Großbritannien, nach dem Krieg lebte sie in West-Berlin, später in Israel. Sie war vielseitig begabt. Bevor sie als Schriftstellerin tätig wurde, machte sie eine Schauspielausbildung und arbeitete u.a. als Dramaturgin für die UFA. Mit Umělecké základy amatérského filmu (Prag, 1938) ist in der Bibliothek nun auch ihr sehr seltenes kleines Werk über die künstlerischen Grundlagen des Amateurfilms zu finden. Mehr über die Biografie von Anna Maria Jokl kann man in Aus sechs Leben (Berlin, 2011) nachlesen.


Gustav Regler, 1898 in Merzig geboren, floh 1933 zunächst nach Frankreich, bevor er, nach Aufenthalten in der Sowjetunion, seiner Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg als Mitglied der Internationalen Brigaden und seiner Internierung 1939 im Lager Le Vernet, 1940 über die USA nach Mexiko emigrieren konnte. Dort erschien 1943, illustriert von seiner zweiten Frau Marie Luise Vogeler, sein deutsch-englischer Lyrikband The Bottomless Pit (Der Brunnen des Abgrunds) in einer kleinen Auflage von 400 Exemplaren im Selbstverlag. In den Deutschen Blättern für ein europäisches Deutschland, gegen ein deutsches Europa lobt der Rezensent in Nr. 6 (1944) auf S. 37 (= S. 237) begeistert: »warme, reife Frucht von Gefühl und Gedanke sind diese Verse, erstaunlich dabei die zweisprachige Ausgeglichenheit der Form.«


Livia Neumann, 1912 in Budapest geboren und 1938 nach Argentinien emigriert, blieb auch im Exil journalistisch tätig. Als Redakteurin des Argentinischen Tageblatts war sie für die Rubrik ›Seelenklinik‹ zuständig und veröffentlichte in diesem Rahmen ihr Buch Hab’ Mut zum Glück (Buenos Aires, 1942), in dem sie sowohl auf das persönliche Glück als auch auf Probleme, die eine Auswanderung mit sich bringt, eingeht. Praktische Lebensratschläge prägen das Buch, zwischenmenschliche Probleme gibt es schließlich in allen Lebenslagen, auch im Exil. So werden im Kapitel ›Ideale Ehepartner‹ zeitlose Tipps zur Auswahl gegeben, u.a. stellt sie auf S. 71 fest: »Cholerisch Veranlagte sind schon weniger angenehm.« In Sachen Emigration lautet ihre Devise ›Umstellen auf allen Gebieten‹. Man solle immer daran denken, dass es anderen 

auch nicht besser gehe und man kein Ausnahmefall sei: »Man bilde sich nicht ein, mit dem 

Schicksal einen Privatvertrag abgeschlossen zu haben, wonach man anders behandelt wird, als Millionen Anderer« (S. 98–99).


In Buenos Aires erschien von 1942 bis 1945 auch die Zeitschrift Porvenir, in der alle Fragen des jüdischen Lebens in der Exilgemeinde behandelt werden. Literarische Themen spielen dabei eine wichtige Rolle, so werden u.a. in Nr. 7 (1944) die Todesumstände von Stefan Zweig besprochen (S. 31–32, der unaufgelöste Verfasser c.l. täuscht sich beim Todesdatum), auf S. 27–30 findet sich der Beginn der in Fortsetzungen erschienenen Novelle Das weiße Licht von Schalom Ben-Chorin, in Nr. 9 (1944) schreibt Max Brod über das Theater in Erez Israel (S. 80–83), in der Doppelnummer 14/15 (1944) Erika Mann über Instántaneas de la Tierra Prometida (S. 231–234). Die retrospektive Erwerbung von kompletten Zeitschriftenfolgen ist besonders schwierig, weil oft nur Einzelhefte oder nur die Nummern, die schon im Bestand vorhanden sind, zum Verkauf stehen. Abgesehen von der Nr. 3 konnten bei Porvenir alle erschienenen Hefte erworben werden.


In Stimmen hinter Stacheldraht (Ramsey, 1940) haben die Herausgeber, Internierte des Mooragh Camp, Isle of Man, Texte u.a. von Erich Fried, Jura Soyfer und Louis Fürnberg versammelt, die Flucht, Exil, Verfolgung und z.T. auch Gefangenschaft aus eigener Anschauung kannten. Bruno Heilig, der selbst im Mooragh Camp interniert war, schreibt in seinem Vorwort (S. 4) über die kleine Textsammlung: »In diesem Heft sprechen Menschen aus der Unfreiheit. […] Es spricht der Mensch hinter vergitterter Gefängnisluke, es spricht der Mensch aus dem Inferno Dachau, und es spricht der Mensch aus dem Internierungslager des humanen England. Sie sprechen aus drei verschiedenen Welten in einer Sprache. In der Sprache der Freiheit.« Aktuell ist außer im DLA nur ein weiteres Exemplar im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 nachgewiesen.


Die Suche nach fehlenden Titeln geht in der Erwerbung auch in den nächsten Jahren stetig weiter. Als besonders prominenter Titel fehlt in der Sammlung noch die Erstausgabe von Stefan Zweigs Schachnovelle (Buenos Aires, 1942). Angebote sind jederzeit hochwillkommen!


Mit herzlichem Dank an all unsere wunderbaren Lieferanten im Antiquariatsbuchhandel: Ohne Ihre Hilfe wären in unseren Beständen nicht so viele Schätze zu finden.


Katja Buchholz


Foto: DLA Marbach (Jens Tremmel).

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