außer der reihe 11: die Maske des freundlichen Bürgers täuscht. Zum 125. Todestag von Conrad Ferdinand Meyer

Beinah bieder, so schaut Meyer in seinen mittleren Jahren aus manchen Bildnissen und Fotografien in die Nachwelt. Doch die Maske des freundlichen Bürgers täuscht. Prunkvolle Ausstattungsstücke, gründerzeitlich detailverstellt, das mag der erste Leseeindruck sein, den Meyers zumeist in bedeutungsvollen Vergangenheiten angesiedelte Novellen hinterlassen. Wiederum wäre getäuscht, wer es beim ersten Lesen beließe.

 

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts scheint das Leben zu triumphieren: Das Bürgertum prosperiert und richtet sich häuslich ein in vergangener und gegenwärtiger Kunst und Kultur; die Naturwissenschaften ringen der Natur vermeintlich ihre letzten Geheimnisse ab. Die Kehrseite der Ernte, das leere Stoppelfeld der Seele, in den Werken eines Meyer, Stifter oder Mörike wird es sichtbar. (Meyer spricht von »Gottvertrauen, so viel ein Kind des XIX. Jahrhunderts haben kann«.) Was den Schaffenden in Biedermeier und Realismus zu schaffen macht, sind vielfach und keimhaft Probleme, Fragen und Erfahrungen, die uns teilweise heute noch beschäftigen.

 

Bürgerlich-schriftstellerische Karriere und latente psychische Gefährdung sind unauflöslich verschränkt im Leben des am 11. Oktober 1825 in Zürich geborenen Conrad Ferdinand Meyer, Spross einer alten Zürcher Patrizierfamilie. Drei Frauen prägen Meyers Lebensweg, der aus der Nacht der (erblich mitbedingten) Depression und Lethargie in die rund zwei Jahrzehnte (um 1870–90) bürgerlich-erfüllten Schreibens führt und abfällt in Jahre bloßen Verdämmerns. Nach dem frühen Tod des geistig und körperlich labilen Vaters kümmert sich die streng religiöse Mutter bis zu ihrem Freitod 1856 um Meyers Schwester Betsy und den problematischen Conrad, den sie 1852/53 wegen schwerer Depressionen in eine psychiatrische Heilanstalt einweisen lässt. Nach seiner Entlassung beginnt Meyer ganz allmählich einen eignen Weg zu gehen: als Schriftsteller und Übersetzer. Öffentliche Anerkennung fand er erstmals 1871 für sein Versepos Huttens letzte Tage, das nicht zuletzt als patriotisches Zeugnis in vaterländischen Zeiten gelesen wurde.

 

Mit der geliebten Schwester geht Meyer in den folgenden Jahren auf Reisen, beispielsweise 1858 nach Rom, Florenz und Siena. Kunst und Geschichte Italiens und Frankreichs werden ihm zum Erlebnis und prägen wie die bereits in frühen Jahren erfahrene Natur seiner Heimat das allmählich entstehende lyrische und erzählerische Werk. Meyers späte Heirat 1875 mit Luise Ziegler bringt nicht nur die ersehnte gesellschaftliche Rehabilitierung des in seiner Jugend Lebensuntüchtigen, sondern führt auch zum Konflikt seiner letzten Jahre: Gattin und Schwester wachen, wechselseitig eifersüchtig, über den mit (so die Diagnose) »seniler Melancholie« Geschlagenen, der am 28. November 1898 in Kilchberg bei Zürich stirbt.

 

Meyers Gesamtwerk ist so konzentriert wie bedeutsam: ein Roman (Jürg Jenatsch, 1876), zehn – zur Hälfte durch Rahmenhandlungen gefasste – Novellen (u.a. Die Hochzeit des Mönchs, 1883/84; Die Versuchung des Pescara, 1887), zwei Versepen und rund 230 Gedichte, von denen einige – so Hugo von Hofmannsthal – Meyer »in die kleine Schar der wenigen großen Dichter der Deutschen« rücken. Literatur aus der Distanz ist fast alles, was Meyer schreibt. Stoffe und Figuren entstammen zumeist der Vergangenheit: Meyer, der »die brutale Aktualität zeitgenössischer Stoffe« verabscheute, suchte das »Ewig-Menschliche«. Dabei leuchten Meyers kraftvoll-kunstreiche Prosa und seine mitunter symbolträchtigen und doch ökonomischen Verse nicht im vermeintlichen Glanz vergangener Zeiten, sondern führen Unmenschlichkeit und Tod ebenso unbeschönigt vor Augen wie Macht und Ohnmacht als Seiten einer Medaille.

 

Dietmar Jaegle

 

Beitragsbild: Conrad Ferdinand Meyer. Fotografie von C. Ruf in Zürich (undatiert). Foto: DLA Marbach.

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