außer der reihe 10: Friedrich Theodor Vischer

Eine buchstäblich hintersinnige Geschichte, erzählt von einem Blättchen im Format 16,5 x 10,5 cm. Viermal gefaltet, zum Einwickelpapier geworden, liegt es in einem Notizkalender Vischers, ebenso lakonisch wie kryptisch beschriftet: »Schnauz-Nadel«. Wer hofft, dieses Rätsel-Wort durch einen gegenständlichen Inhalt verstehen zu können, wird enttäuscht. Doch machen Vischers Verse, die den einzigen ›Inhalt‹ des ›Papierbriefchens‹ darstellen, klar, was hier einmal eingelegt gewesen sein muss:

 

Samt dem Faden diese Nadel

Hatte jüngst der gute Schnauz

Ganz hinabgeschluckt – mir graut’s!

Doch Verdauung ohne Tadel!

Nach zwei Tagen Schmerzenlauts

Ohne Hülf’ etwelchen Krauts

Ist sie aus der unvernähten

Hinterpforte ausgetreten.

 

Der Begriff der »Schnauz-Nadel« fasst die Protagonisten genial-kompakt zusammen: Hund (›Schnauzer‹) und Nadel, lebendiges Subjekt und totes Objekt, Opfer und Peiniger.

 

Mit anal-fabetischem Witz nennt Vischer den eigentlich seinerzeit nicht literaturfähigen guten ›Ausgang‹ der Nadel-Odyssee beim Wort. Die »Hinterpforte« spielt auch in einem anekdotischen »Beitrag« Vischers »zum Komischen« eine zentrale Rolle: »Ein Einäugiger pflegte in der leeren Augenhöhle ein gläsernes Auge zu tragen, das er nachts herausnahm und der Reinlichkeit wegen in ein Glas Wasser setzte. Ein Fremder schlief einmal mit ihm in Einem Zimmer, wurde nachts durstig, stand auf, trank das Glas Wasser aus und verschluckte unvermerkt das Auge. Bekam alsbald schreckliches Bauchgrimmen. Der Arzt verordnete ein Klistier, nimmt die Spritze, will sie applicieren, wie er aber hinsieht, taumelt er voll Entsetzen zurück und schreit: Hilf Himmel! da sieht einer heraus!« [Briefwechsel zwischen Eduard Mörike und Friedrich Theodor Vischer, hrsg. von Robert Vischer, München 1926, S. 150.]

 

Verdankt sich die Komik hier auch der lakonischen Erzählweise, so ist’s beim Schnauz-Nadel-Gedicht das Versmaß, das Lachen erregt: Vischers vierhebige Trochäen enttäuschen aufs Schönste eine Erwartungshaltung. Schließlich vertraute man ihnen meist Hymnisches oder Lyrisches an. Würdevoll schreiten sie in dem Thomas von Aquin zugeschriebenen Hymnus Pange, lingua, gloriosi, ins Lyrische gewendet hat sie Mörike (»Frühling läßt sein blaues Band / Wieder flattern durch die Lüfte«).

 

Herrenlose Glasaugen, versehentlich verschluckt, Nähnadeln samt Faden, im tierischen Unverstand in den Hund gekommen – derlei Ereignisse bestätigen Vischer in seinem Glauben an ein erstmals von ihm erforschtes und benanntes Phänomen: die Tücke des Objekts. Wittgenstein hat Vischers ›Entdeckung‹ einen »dummen Anthropomorphismus« genannt [Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß, hrsg. von Georg Henrik von Wright (…), Frankfurt a.M. 1994, S. 551], man könnte sie aber auch als neurotisch-schwarzen Animatismus bezeichnen. Im Roman Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft führt Vischer das Phänomen in Theorie und Praxis vor. »A. E. […] schrie mit Donnerlaut: ›Meine Brille, meine Brille! Die Canaille hat sich ja wieder einmal verkrochen, – vom Schlüssel, dem kleinen Teufel, vorerst nicht zu reden!‹ […] Ich suchte inzwischen am Boden herum; […] strengte meine Augen an, die sich einer guten Sehkraft erfreuen, und die Entdeckung war gemacht; ich nahm den schwergeärgerten Mann leicht am Arm und deutete schweigend auf die Stelle. Er stierte hin, erkannte die vermißten Gläser und begann: ›Sehen Sie recht hin! Bemerken Sie den Hohn, die teuflische Schadenfreude in diesem rein dämonischen Glasblick? Heraus mit dem ertappten Ungeheuer!‹

Es war nicht leicht, die Brille aus dem Loch zu ziehen, die Mühe stand wirklich im Mißverhältnis zum Werthe des Gegenstands, endlich war es gelungen, er hielt sie in die Höhe, ließ sie von da fallen, rief mit feierlicher Stimme: ›Todesurteil! Supplicium!‹ hob den Fuß und zertrat sie mit dem Absatz, daß das Glas in kleinen Splittern und Staub umherflog.« [Friedrich Theodor Vischer, Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft, Bd. 1, Stuttgart/Leipzig 1879 (recte: 1878), S. 17–19.]

 

Die Tücke des Objekts, so wird deutlich, bestimmt die Welt(-Sicht) des Subjekts auf grundsätzliche Weise: »O, das Objekt lauert. […] Von Tagesanbruch bis in die späte Nacht, so lang irgend ein Mensch um den Weg ist, denkt das Objekt auf Unarten, auf Tücke. Man muß mit ihm umgehen, wie der Thierbändiger mit der Bestie, wenn er sich in ihren Käfig gewagt hat; er läßt keinen Blick von ihrem Blick und die Bestie keinen von seinem; was man da von der moralischen Gewalt des Menschenblickes vorbringt, ist nichts«. [Ebd., S. 32.]

 

Und vom Blick eines armen Hundes, um wieder zu unserem Gedicht zurückzukehren, lässt sich das tückische Objekt erst recht nicht erweichen. Indem sie in den Rachen des Schnauzers springt, peinigt die Nadel überdies das mit seinem Hund mitleidende Herrchen. Dieses Mal aber geht die Geschichte gut aus: Die Kräfte von Mutter Natur überwinden das Böse.

 

Dietmar Jaegle

 

Beitragsbild: Notizbuch von Friedrich Theodor Vischer mit eingelegtem Papierbriefchen. Foto: DLA Marbach.

kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Ich akzeptiere die Datenschutzhinweise gemäß DSGVO.