Singen! Lied und Literatur. 6. Tod

Sterbende können bis zuletzt hören. Lieder können ihnen helfen, die Situation zu ertragen. Das Sterbelied ist wie ein letztes Wiegenlied. In vielen Kulturen wird in der Sterbephase und bei der Totenwache gesungen. Lieder können Angst und Schmerz nicht wegsingen. Aber sie können die Leere und Sinnlosigkeit erträgli cher machen. Andere Lieder verweisen auf den christlichen Auferstehungsglauben. Manchmal wird auch die sterbende Natur besungen. Auch wo es nur im übertragenen Sinn ans Sterben geht, helfen ästhetische Ritualisierungsstrategien wie das Singen, Hören oder Schreiben von Liedern.

 

Gunilla Eschenbach

 

***

 

Margarete Susman (1872–1966), Dichterin, Essayistin, Kritikerin und eine der ersten modernen deutschjüdischen Philosophinnen, kommt am Anfang der Jahrhundertwende nach Berlin, wo sie Teil des Kreises um Georg Simmel wird. Carl Heymann-Rheineck (1852–1924) ist Musiker, Komponist und ab 1894 Professor an der Königlichen Hochschule für Musik in Berlin. Im Frühjahr 1903 entdeckt Heymann-Rheineck den 1901 erschienen Gedichtband Mein Land von Margarete Susman. Er lebt fortan, wie er ihr schreibt, »mehr bei Ihnen in Ihren Werken«, sein »ganzes Wesen« werde in die »Welt Ihrer Gedichte« hineingezogen und er empfindet einen »unsichtbaren Zusammenhang gleichgestimmter Seelen«.

 

Zu einer ersten Begegnung kommt es am 24. Februar 1904 im Rahmen der Aufführung einiger Vertonungen von Susmans Gedichten durch Heymann-Rheineck an der Königlichen Hochschule für Musik. Es folgen über mehrere Wochen überschwängliche Annäherungsversuche des Komponisten, der in der Dichterin sogleich eine Freundin für den Rest seiner Lebenstage sieht. Susman ist nach dem Verlust ihres Jugendfreundes Erwin Kircher (1881–1903), der nach langer Tuberkuloseerkrankung im November 1903 verstorben war, noch in Trauer. Sie zeigt sich Heymann-Rheineck gegenüber, wie die erhaltenen Briefe nahelegen, nicht gleichermaßen euphorisiert. Ob es am Missverhältnis der Leidenschaften oder an einer unterschiedlichen Auffassung in Sachen Musik liegt, lässt sich nicht genau rekonstruieren. Für Susman ist »das Dichten immer etwas«, das allein sie selbst anging, »eine innere Befreiung«, und im Kunstwerk will sie, wie sie an Heymann-Rheineck schreibt, »die befreite Seele sehn, die über sich selbst hinaus ist«. Auch wenn sie in den Vertonungen diese »befreite Seele« nicht entdeckt haben sollte, kann der insgesamt über etwa ein halbes Jahr andauernde Austausch zwischen den beiden als nicht ganz einseitig angesehen werden.

 

Das der Vertonung Unter des Himmels Rot zugrunde liegende Gedicht war 1904 noch unveröffentlicht, und dessen Übergabe an Heymann-Rheineck ist mithin als eine kleine Erwiderung Susmans in künstlerischer Hinsicht zu betrachten. Der Inhalt des Gedichts lässt seine Entstehung in Zusammenhang mit Susmans Trauerphase vermuten. Nachdem bereits im März 1904 das Ungleichgewicht in den Neigungen deutlich geworden ist, komponiert Heymann-Rheineck am 28. Mai 1904 das Lied Unter des Himmels Rot. Ungeachtet der Zurückweisung hofft er, Susman »mit Musik […] nahen zu dürfen«, und versucht ebendies noch einmal am 1. Juni mit der Vertonung ihres Gedichts Wenn Lichter löschen. Das Licht der Leidenschaft, das im Februar so hell aufflackerte, geht in diesen Tagen allmählich aus.

 

Martin J. Kudla

 

 

Beitragsbild: Carl Heymann-Rheineck: Unter des Himmels Rot nach Worten von Margarete Susman. Foto: DLA Marbach.

 

Auszug aus dem Marbacher Magazin 181.182 Singen! Lied und Literatur, das die gleichnamige Ausstellung begleitet. Ab 25. September erhältlich in unserm Shop www.dla-marbach.de/shop/ oder im Buchhandel.

 

#LiteraturBewegt wird gefördert von der Kulturstiftung des Bundes und dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg.

kommentar

Die E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Ich akzeptiere die Datenschutzhinweise gemäß DSGVO.