Mein ungewöhnlicher Fund im Nachlass von Raymond Klibansky: eine Originalurkunde von 1455 ausgestellt von Nikolaus von Kues, aka Cusanus, als Bischof von Brixen

Diese kleine Urkunde aus dem Nachlass von Raymond Klibansky kann uns über die politischen Verhältnisse in Südtirol um 1455 hinaus einiges über die heutige, arbeitsteilige wissenschaftliche Zusammenarbeit erzählen. Mehrere Menschen haben mit ihrer Expertise beigetragen, um diesen für das DLA so ungewöhnlichen Fund historisch richtig einzuordnen und für unsere Gegenwart lebendig zu machen. Doch der Reihe nach.

 

Anlass meiner Reise war ein Treffen mit Regina Weber und Veronica Butler, beide erfahrene DLA-Forscherinnen, die mich bei meinem Promotionsvorhaben mit dem Arbeitstitel ›Raymond Klibanksy (1905–2005) und die deutsche Cusanus-Forschung im 20. Jahrhundert‹ auf sehr liebenswürdige Art tatkräftig unterstützen. Petra Schulte, Inhaberin des Lehrstuhls für mittelalterliche Geschichte an der Universität Trier, Direktorin des Trierer Cusanus-Instituts und Betreuerin meines Promotionsvorhabens, hatte das Thema angeregt und diesen Kontakt hergestellt. Das preiswerte und bequeme Collegienhaus ermöglichte mir einen etwas längeren Aufenthalt in Marbach mit einigen Archivtagen.

 

Der Philosophiehistoriker Raymond Klibansky fand als junger, gut ausgebildeter Student Aufnahme in den Forscherkreis um Aby Warburg und Ernst Cassirer, der sich für das Fortleben der Antike in der Nachwelt interessierte. Hier stieß Klibansky auf die Werke des Nikolaus von Kues, die Klibansky als Bindeglied zwischen antiker, mittelalterlicher und neuzeitlicher Philosophie verstand. Das Interesse an Cusanus begleitete Klibansky bis zum Ende seines langen, von akademischer Forschung geprägten Lebens. Ein wesentlicher Bestandteil des in Europa befindlichen Nachlasses Klibanskys wurde von seiner Witwe Ethel Groffier dem DLA zur Aufbewahrung übergeben. Grob vorsortiert findet man dort auf 198 Kästen verteilt Korrespondenzen, Notizzettel, wissenschaftliche Arbeiten, Druckwerke und ähnliches. 198 Kästen sind eine Menge, wie auch die DLA-Bibliothekarin Claudia Gratz bestätigen kann, die sich dankenswerterweise bemühte, immer mindestens so viele Kästen pro Tag aus dem Archiv zu holen, wie ich grade noch durchsehen konnte. Jeder dieser Kästen ist anders bestückt und verspricht eine Überraschung. Zwischen zusammengewürfeltem Schriftgut aus dem 20. Jahrhundert befand sich also versteckt in einem kleinen Pappkarton, der ursprünglich ein Reisebügeleisen beinhaltet hatte, der Schatz aus der Vergangenheit.

 

Ich beschäftige mich in meiner Forschung mit der Rezeption von spätmittelalterlichem Wissen im 20. Jahrhundert, bin also trotz meiner Anbindung an den Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte von Petra Schulte keine Expertin für mittelalterliche Urkunden. Daher bat ich um fachliche Hilfe. Die Leiterin des DLA-Referats für Bestandserhaltung, Enke Huhsmann, öffnete die Urkunde und übernahm die konservatorische Aufbewahrung. Ihre Kollegin Nikola Herweg vom Referat für Erschließung ermöglichte eine rasche Digitalisierung. Damit war der Weg zur inhaltlichen Auswertung offen.

 

Marco Brösch, Bibliothekar des St. Nikolaus-Hospitals/Cusanusstifts in Kues und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Trierer Cusanus-Institut, transkribierte den Text und identifizierte das Schriftstück als eine bislang unbekannte Cusanus-Urkunde. Nikolaus von Kues bestätigt darin die Gründung und Satzung einer Bruderschaft der ortsansässigen Hufschmiede, Sägenschmiede, Schlosser und Kesselschmiede durch die Vermittlung von Leonhard von Velseck, Hauptmann zu Bruneck, und Wolfgang Krumpacher, Stadtrichter zu Bruneck. Als Bischof von Brixen (1452–58/60) war Nikolaus von Kues auch Landesherr. Das Siegel des Bischofs brachte der Bruderschaft der Schmiede das Wohlwollen der Kirche und Rechtssicherheit.

 

Der Herausgeber der Quellenedition ›Acta Cusana‹, Thomas Woelki, bestätigte die Urkunde und wird sie als Nachtrag in den Abschlussband der Acta Cusana aufnehmen. Er konnte als Schreiber der Urkunde den Thüringer Lorenz Hamer aus Saalburg identifizieren.

 

In den Unterlagen der ›Acta Cusana‹ befindet sich ein allgemeiner Hinweis auf eine Cusanus-Urkunde im Besitz von Raymond Klibanky, jedoch weder ein Foto noch eine Textabschrift. Warum Klibansky die Urkunde zwar aufbewahrte, aber nicht weiter beachtete, lässt mich spekulieren. Er wolle das Denken und die Philosophie begreifen, so schrieb er später über die Zeit, in der er begann, sich mit Nikolaus von Kues zu beschäftigen (Raymond Klibansky, Erinnerungen an ein Jahrhundert. Gespräche mit Georges Leroux, Frankfurt a.M. 2001, S. 75). Für den Philosophen Klibansky zählte ein schnöder Verwaltungsvorgang von lokaler Bedeutung gewiss weniger als die genuin eigenständige Philosophie des Cusanus. Das mag der Grund sein, warum die Urkunde in der Masse seiner hinterlassenen Papiere verschwand. Für uns Heutige aber ergänzt der Fund das Bild, das wir als Kollektiv uns vom Spätmittelalter machen können.

 

Um das Große im Kleinen und das Kleine im Großen zu sehen, brauchen wir gut gesicherte Quellen, Kontext und die Interpretation durch engagierte Fachleute. Von allen dreien hoffe ich bei meinem nächsten Aufenthalt im DLA noch mehr zu entdecken.

 

Elke Välilä (Universität Trier)

 

Beitragsbild: Foto DLA Marbach (Anja Bleeser).

kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Ich akzeptiere die Datenschutzhinweise gemäß DSGVO.