Zum 100. Geburtstag von Ludwig Greve

»Ich hätte sehr gerne mit Ihnen über Ihre Ausstellung und über Ihre Erfahrungen mit den Besserwissern gesprochen. Es ist ja klar, dass die paar noch überlebenden Zwerge sich heute in die Brust werfen müssen. Sie sind die ärgsten Feinde der toten Grossen«.

 

Dies schrieb am 7. September 1960 der Schweizer Literaturhistoriker Walter Muschg an Ludwig Greve. Er bezieht sich auf die Ausstellung Expressionismus – Literatur und Kunst 1910–1923 und – mit den »toten Grossen« – auf die eben noch als ›entartet‹ verfolgten Autorinnen und Autoren, die Bibliotheksleiter Paul Raabe, die Bibliothekarin Ingrid Grüninger und der damals freie Mitarbeiter Ludwig Greve ins Licht der Öffentlichkeit gerückt hatten. Wer aber sind die »Besserwisser«? Spielte Muschg hier auf die Kontroverse an, die Hermann Kasack mit seinem Brief an Ludwig Greve vom 9. Mai 1960 eröffnete?


Der damalige Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung hatte die Eröffnungsrede am 8. Mai 1960 gehalten. Nun polemisierte er gegen den von Greve verfassten Text, der der Ausstellung programmatisch vorangestellt und auch auf dem Rücken des Katalogs gedruckt worden war.

Foto: DLA Marbach (Jens Tremmel).

Diesem Text konnte Kasack, der sich selbst zu den späten Expressionisten zählen durfte, so ganz und gar nichts abgewinnen, was er – nicht ohne auf seine Zeitgenossenschaft hinzuweisen – dem deutlich Jüngeren mitteilte. Es schiene ihm angebracht, setzte er in einem weiteren Brief vom 27. Mai 1960 hinzu, seinen ersten Brief und Greves Antwort zu veröffentlichen, um eine Debatte dazu, wie sich die jüngere Generation zum Expressionismus verhalte, anzustoßen.

 

Tatsächlich veröffentlichte die Stuttgarter Zeitung am 2. Juli 1960 den umstrittenen Text und die beiden Briefe – zusammen mit einer kurzen, mit der Marbacher Position sympathisierenden Einleitung.

 

Die darin angemerkte »Unterschiedlichkeit des Blickwinkels« – der jüngeren und der älteren Generation – lässt sich auch auf die Biografien der beiden Briefeschreiber beziehen: Während der eine in den Jahren der NS-Diktatur – zwar zum Preis des Rückzugs in die sogenannte innere Emigration – seine wohlsituierte bürgerliche Existenz nie hatte aufgeben müssen und nach 1945 an frühere Erfolge und Kontakte anknüpfen konnte, hatte der 21 Jahre alte Greve im Frühjahr 1945 weder Schulabschluss noch Ausbildung vorzuweisen. Er und seine Familie hatten seit 1939 um die nackte Existenz kämpfen müssen – einen Kampf, den nur er und seine Mutter überlebten.

Diese unterschiedlichen Ausgangssituationen spielen in Greves höflichen, aber eben doch scharfen Replik auf Kasacks Angriff hinein – von dem fast devoten Ton einiger Sätze sollte man sich nicht täuschen lassen. In einem privaten Brief an eine Freundin (Greve an Elisabeth Dünkelsbühler, 15. Mai 1960) schreibt Greve: »vielleicht amüsiert es Sie, daß meine kleine hommage auf dem Umschlag eine wütende, ja giftige Reaktion von Seiten Kasacks (der eine höchst überflüssige Festrede hielt) herausforderte.«


Greve hatte allen Grund, selbstbewusst zu sein. Nicht nur war der Zuspruch für Katalog und Ausstellung enorm – rund 500 Besucher fanden sich allein zur Eröffnung ein, und bis zu ihrem Ende im Oktober 1960 waren es 30.000, bevor die Schau u.a. nach Berlin und New York weiterwanderte. Auch die Notate des damaligen DLA-Direktors Bernhard Zeller, in denen die Kontroverse zwischen Kasack und Greve mit wenigen lapidaren Zeilen abgehandelt wird, zeigen, wie hoch die Wertschätzung war, die Greve und seinem Urteil entgegengebracht wurde. Paul Raabe schreibt in seinen Erinnerungen Mein expressionistisches Jahrzehnt (Göttingen 2013) über ihn: »Greve war ein belesener Partner […] ein amüsanter, unterhaltsamer Erzähler […]. Er hatte ein sicheres Urteil […]. Sein Hauptanteil an der Ausstellung war seine kritische Haltung«.


1961 erschien Greves erster Lyrikband (Gedichte, München 1961; Ausstattung und Typographie hatte Greves Freund HAP Grieshaber beigesteuert). Weitere Bücher folgten. 1968, acht Jahre nach der legendären Expressionismus-Ausstellung wurde Ludwig Greve Paul Raabes Nachfolger. Bis zu seinem vorzeitigen Ruhestand im Jahr 1988 leitete er die Marbacher Bibliothek und zeichnete für viele weitere Ausstellungen und Kataloge verantwortlich. Im Jahr nach seinem frühen Tod – er ertrank 66-jährig vor Amrum – wurde ihm 1992 für sein dichterisches Werk postum der Peter-Huchel-Preis verliehen.


Nikola Herweg


Beitragsbild: Bernhard Zeller, Ludwig Greve und Paul Raabe (1959).


Bücher (Auswahl)

Ludwig Greve: Die Gedichte. Hrsg. von Reinhard Tgahrt in Zs.-Arb. mit Waltraud Pfäfflin. Mit einem Nachw. von Harald Hartung. Göttingen 2006.

Ludwig Greve: Autobiographische Schriften und Briefe. Hrsg. von Friedrich Pfäfflin und Eva Dambacher. Mit einem Essay von Ingo Schulze

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