Robinsonaden-Sammlung erworben

Wer wäre nicht gerne mal Robinson Crusoe? Nach dem ersten Schrecken über das unfreiwillige Stranden können sich die Helden (und wenige Heldinnen) oft an exotischer Kulisse und gutem Wetter erfreuen. Auf sich allein gestellt und mit ungewisser Perspektive entwickeln sie ungeahnte Fähigkeiten und wachsen über sich hinaus. Der Kampf ums Überleben und die Notwendigkeit, existentielle Bedürfnisse zu stillen, verdrängen das zuweilen eher lästige Streben nach Selbstverwirklichung. Rettung kann, muss aber nicht kommen: Mehr Spannung ist im Alltag nicht möglich.


Weniger attraktiv erscheint dagegen die Lebenssituation moderner Robinson-Figuren. Schiffbruch und Südseeinsel des 18. und 19. Jahrhunderts werden im 20. und 21. Jahrhundert durch »Raumschiffbruch« und unwirtliche Planeten oder das All abgelöst. Für die Handlung spielen Umweltzerstörung, die Bedrohung der gesamten Menschheit und die erzwungene Suche nach neuen Lebensräumen eine immer größere Rolle. Robinson sein bedeutet traditionell immer die Rückkehr zur menschlichen Zivilisation (auf der Erde) oder zumindest die Möglichkeit dazu, wenn alle Abenteuer bestanden sind. Für moderne, im Weltall verschollene Robinsone wird das ungleich schwieriger.


Die kürzlich erworbene Robinsonaden-Sammlung der Bibliothek erlaubt es allen Interessierten, ausgiebig in den Robinson-Crusoe-Kosmos einzutauchen. Rund 1.600 Exemplare vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart bilden die Klassiker des Genres ab und dokumentieren in allen möglichen Sprachen, Formaten und Ausgaben die Auseinandersetzung mit dem Motiv der Robinsonade.


Alles beginnt 1719 mit Daniel Defoes The Life, and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe, of York, Mariner: Who lived eight and twenty Years all alone in an un-inhabited Island on the Coast of America, near the Mouth of the Great River of Oroonoque: Having been cast on Shore by Shipwreck, wherein all the Men perished but himself: With an Account how he was at last as strangely deliver’d by Pyrates. Written by Himself. Der Roman wurde sofort ein Bestseller, 1719 erschienen vier Auflagen, schon im Jahr darauf französische, deutsche und niederländische Übersetzungen.


Als Vorbild für die Figur Robinson Crusoe gilt der schottische Steuermann Alexander Selkirk (1676–1721), der 1703 auf dem englischen Freibeuterschiff ›Cinque Ports‹ anheuerte und im September 1704 – nach Differenzen mit Kapitän Stradling die Seetauglichkeit der ›Cinque Ports‹ betreffend – auf der damals unbewohnten Isla Más a Tierra, später Isla Robinson Crusoe, zurückblieb. Es gelang ihm, vier Jahre und vier Monate lang auf der Insel zu überleben. Erst am 1. Februar 1709 wurde er gerettet und konnte in die Zivilisation zurückkehren. (Was die mangelnde Seetauglichkeit des Schiffes anging, sollte Selkirk im Übrigen Recht behalten: Die ›Cinque Ports‹ sank tatsächlich, und Stradling geriet mit den wenigen Überlebenden seiner Besatzung in spanische Gefangenschaft.)


Wer Defoes Klassiker (wieder)lesen möchte, hat nun die Qual der Wahl: Die Sammlung weist über 360 Ausgaben auf, darunter viele englische und deutsche, aber auch etliche niederländische und französische Ausgaben, viele davon illustriert, für Kinder und Jugendliche bearbeitet oder gekürzt. Defoes Roman fand über die Jahrhunderte unzählige Antworten. Zu den bekanntesten zählt Joachim Heinrich Campes Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder (1779/80), das zu einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Jugendbücher wurde und in über 150 verschiedenen Varianten in der Sammlung auftaucht. Johann Rudolf Wyss veröffentlichte 1812 den ersten Teil von Der Schweizerische Robinson oder der schiffbrüchige Schweizer-Prediger und seine Familie. Die Geschichte, die sein Vater Johann David Wyss Ende des 18. Jahrhunderts für seine Kinder erfunden hatte, kann man in der Robinsonaden-Sammlung in über 120 verschiedenen Ausgaben wiederentdecken. Frederick Marryat, der schon mit 14 zur Marine ging, reagierte mit seinen Robinsonaden, u.a. 1841/45 Masterman Ready, or the Wreck in the Pacific (dt.: Sigismund Rüstig), auf den »schweizerischen Robinson«, der ihm, weil zu unrealistisch, nicht zusagte. Vertreten sind auch etliche Ausgaben von Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1731/43), Robert Michael Ballantynes The Coral Island (1858) und Robert Louis Stevensons Treasure Island (1883). Schnabel prägte auch den Begriff der »Robinsonade«. In der Vorrede zur Insel Felsenburg bezeichnete er sein Werk als »zusammen geraspelte Robinsonaden-Späne« (Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg, Rowohlt, 1969, S. [9]).


Bei der Lektüre kann man sich die Hintergrundkulisse je nach Geschmack aussuchen. In Afrika kann man genauso Robinson Crusoe sein (Charles H. von Mirval, Der Robinson der Sandwüste oder Reise eines jungen Schiffbrüchigen an den Küsten und im Innern Afrika’s, 1846) wie in der Arktis (Percy B. St. John, The Arctic Crusoe, a Tale of the Polar Sea, 1866), in der Luft (Fortuné Louis Méaulle, Le Robinson des Airs, 1889) oder in den Bergen (Jules Gros und William Reymond, Les Robinsons de la Montagne,  ca. 1890).


Frauen haben in der Literaturgeschichte weit weniger oft das Glück, einsam auf einer Insel zu stranden. Immerhin ein paar weibliche Robinsone (mit sehr erzieherischer Absicht) gibt es dann aber doch, u.a. in Ludwig Hibeaus Ein weiblicher Robinson: Schicksale und Abenteuer eines jungen Mädchens, teilweis [sic] nach einer wahren Begebenheit erzählt (1889). Im 20. Jahrhundert kommen Adaptionen wie The Girl Crusoes (1912) auf den Markt, bezeichnenderweise lautet hier die Verfasserangabe »by Mrs. Herbert Strang«. Auch Sophie Wörishöffer, die mit Robert der Schiffsjunge (1860) sehr erfolgreich war, veröffentlichte lieber unter »S. Wörishöffer«, um als erkennbar weibliche Verfasserin nicht womöglich männliche Leser abzuschrecken.


Robinson Crusoe kann auch zur Weiterbildung eingesetzt werden, z. B. um Sprachen zu lernen (Wilhelm Grünewald, The Robinson Reader: Lehrgang der englischen Sprache im Anschluss an Defoes ›Robinson Crusoe‹, 1914) oder altsprachliche Kenntnisse wiederaufzufrischen (G.F. Goffeaux, The Story of Robinson Crusoe in Latin, 1907). Und auch in die Tierwelt hat Robinson Crusoe Einzug gehalten: The Strange and Surprising Adventures of Jumbo Crusoe as related by himself (Clifton Bingham, 1905) erzählt Kindern die Geschichte in Versform mit einem Elefanten als Helden. Wer Robinson spielen will, ist auch gut versorgt. Die Sammlung enthält neben einem Robinson-Quartett weitere Spiele und Puzzles sowie Spielfiguren. Daneben lassen sich Pop-Up-Bilderbücher und Sammelalben betrachten. Viel Spaß und gute Lektüre!

 

Katja Buchholz

 

Foto: DLA Marbach (Jens Tremmel).

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