Ein Holzsplitter von Schillers Bett im Cotta-Archiv

Aber Nachlass-Zersplitterung gab es auch auf anderer Ebene. Caroline von Wolzogen, die Schwägerin und Nachlassverwalterin Schillers, zerschnitt etliche der nur spärlich erhaltenen Manuskripte des Meisters, um die Autographen-Schnipsel freigiebig an Schiller-Verehrer zu verteilen. So wurde der Volksdichter Schiller im 19. Jahrhundert tatsächlich unters Volk gebracht. Geschäftstüchtige Antiquare machten sich diese Situation zunutze und verkauften die Schnipsel zu Preisen weiter, die allenfalls für das gesamte Manuskript gerechtfertigt gewesen wären – manchmal ist die Summe der Teile eben doch mehr als das Ganze. So gleichen einige der fragmentarisch überlieferten Manuskripte Schillers einem Puzzle, dessen Bestandteile da und dort liegen, vorzugsweise aber in Marbach und in Weimar. Der Geschichte dieser deutschen Teilung fügt sich noch ein ausgesprochen kurioses Kapitel hinzu.


Es mag ihm der Schweiß von der Stirne heiß geronnen sein, dem wackeren Arbeitsmann, der im Jahr 1886 an Schillers Bett in seinem Wohnhaus in Weimar – inzwischen längst Museum – eine Plakette anzubringen hatte, und es beschleicht einen der Verdacht, dass vielleicht der Zimmermann durch die Axt im Hause ersetzt worden war und dabei rohe Kräfte sinnlos walteten, denn bei dem Arbeitsvorgang lösten sich einige Holzsplitter von Schillers Bett; wo gehobelt wird, fallen eben Späne. Aber Splitter von Schillers Bett sind beileibe kein profaner Abfall; es fand sich umgehend ein Interessent dafür, und damit alles seine Ordnung habe, erhielt dieser auch eine offizielle Bescheinigung: »Frau Bertha Lobe, Castellanin im Schillerhaus Weimar, den 23 Juni 1886 // Beim Auflegen einer Meßingplatte an Schillers Bettstelle sind die Splitter Holz abgefallen welche ich Herrn Hartmann gegeben habe. Dießes bescheinigt (daß dieselben nicht unrechter Weiße abgeschnitten sind) d.O. [die Obige]«


Diese handschriftlich beschriebene Visitenkarte hat sich nebst den Holzsplittern selbst wie zur weiteren Beglaubigung in einem mit dem Namenszug »Ed. Lobe’s Wwe. Castellanin Schillerhaus Weimar« bedruckten Umschlag erhalten. Es ist zu hoffen, dass Frau Bertha Lobe, die Witwe des Malers, Kunsthändlers und ersten Aufsehers im Weimarer Schillerhaus, Eduard Lobe, die auch Ansichtskarten und Schiller-Reiseandenken verkaufte, solche Briefumschläge mit entsprechenden Holzsplittern nicht mehrfach an den Mann gebracht hat – die Geschichte des Reliquienwesens kennt ja durchaus solche wundersame Holzsplittervermehrung. Dass aber derartige Schiller-Splitter bisher noch nirgendwo sonst aufgetaucht sind, spricht für die Authentizität der vorliegenden, die über 130 Jahre pietätvoll im Familienbesitz verwahrt wurden. Zwischendurch, im Jahr 1929, vergewisserte sich ein Nachkomme Herrn Hartmanns vor Ort ihrer wahrscheinlichen Echtheit, wie eine gleichfalls beiliegende Notiz auf einer Ansichtskarte von Schillers Wohnhaus belegt – da war vielleicht mit der Zeit dann doch ein leichter Glaubenszweifel aufgekommen.


Hatte der Mann, der die Splitter – ehrfürchtig? geschäftstüchtig? sensationssüchtig? – vom Boden auflas, wie man so sagt, einen Sparren? Jedenfalls ging er nicht anders vor als heutige Archivare. Denn in deren Institutionen liegen ja nicht nur Handschriften und Bücher, dort sammelt man auch Erinnerungsstücke, die bezeichnenderweise gern Dichterreliquien genannt werden. Dabei handelt es sich nicht, wie man in krudem Missverstehen annehmen könnte, um Dichterknochen, den Märtyrern des Literaturbetriebs entnommen, sondern um Gegenstände aus dem Besitz von Autoren, also nicht um Körper-, sondern allenfalls um Kontaktreliquien. Diesen Rang können die Splitter von Schillers Bett denn auch mit Fug und Recht beanspruchen. Zwar pflegt man sonstigem Mobiliar, allem anderen voran dem Dichterschreibtisch, größere geistige Dignität zuzusprechen, doch hat Schiller zweifelsohne mehr Zeit seines Lebens im Bett als am Schreibtisch verbracht, dort vielleicht auch die eine oder andere poetische Eingebung gehabt, den Seinen schenkt’s der Herr bekanntlich im Schlaf. Und was die Geringfügigkeit der Holzsplitter im Verhältnis zum Bett betrifft – unter den im Deutschen Literaturarchiv Marbach verwahrten Schiller’schen Manuskriptschnipseln sind auch welche, die nur wenige Worte enthalten, »Was rennt das Volk?« etwa. Ein solches Text-Bruchstück wirkt enigmatisch, man möchte gern wissen, was davor und danach stand, ja in der schicksalhaft willkürlichen Vereinzelung erscheint ein solches Bruchstück geradezu auratisch und bedeutungsschwer; bekanntlich verrennt sich das Volk ja des Öfteren. Freilich in der radikalen Zuspitzung auf ein einziges Wort, wenn auch mit Komma, wie in dem Schnipsel »seines,« streift das Auratische das Banale, das Erhabene das Lächerliche. Ähnlichen Doppelcharakter tragen auch die Bruchstücke des Dichterbetts, es handelt sich um abgesplittertes Material, das weder Form noch Struktur hat, um Abfall in der eigentlichen Bedeutung des Wortes, und doch war dieses Material Zeuge von Schillers physischer Existenz, trägt die Spur seiner Berührung in sich, sind die unscheinbaren Splitter Holz vom Holz des Schiller’schen Schmerzenslagers. Deshalb haben sie auch ihren Weg ins Cotta-Archiv gefunden, dort, wo auch Handexemplare von Schillers Dramen verwahrt werden, in die er für die dann postum erschienene Gesamtausgabe des Theaters – todkrank im Bett liegend – letzte Korrekturen eingetragen hat. Oft spiegelt sich Großes in Kleinem. Und Archive sind dazu da, beidem eine Heimstatt zu bieten.


Was macht die Geschichte eines Verlags also aus? Große Autoren? Bedeutende Verleger? Wichtige Bücher? Kluge Programmatik? Vielleicht doch einfach gute Geschichten.


Helmuth Mojem


Auszug aus dem Marbacher Magazin 183.184 Verlagsarchive im Deutschen Literaturarchiv. Sammeln und Forschen, hrsg. von Jan Bürger, Gunilla Eschenbach, Anna Kinder, Helmuth Mojem und Sandra Richter. Das Magazin kann über unseren Online-Shop www.dla-marbach.de/shop/ oder im Buchhandel erworben werden.

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