Von A bis W hat Kittler in seiner orangenen Kartei im Format DIN A6 vor allem literarische Zitate zu Phänomenen gesammelt, die nicht in den Dingen selbst liegen, sondern im Auge des Betrachters – von den Farben der Augen zu denen der Wolken und ihren Formen. Er hat sie alle, anders als seine von Hand beschriebenen DIN A5 großen file cards, in die Schreibmaschine eingespannt und dort oft bis an die unterste Kante betippt. Ein mühsames Unterfangen, weil das kleine Format gerade bei den notwendigen häufigen Zeilenumbrüchen und Tabulatoren-Stopps immer wieder verrutscht sein muss und er versuchte, sich dennoch an die Linien zu halten. Wie wenn er die kleinste Form des Formulars ausfüllte: Bibliotheks-Leihscheine und Katalogkarten.
Die meisten dieser Karten hat Kittler zu den Farben, Formen und Zuständen angelegt, in denen der Mond ihm in der Literatur erschienen ist: azur, blutrot, bronzen, gelb, golden, grau, grauweiß, grün, karmesinrot, kupfern, leichenfarben, milchig, orange, perlengrau, purpur, rot, rosenfarben, scharlachfarben, schneeweiß, silberblau, silbern, blass, bleich, kalt, matt, metallisch und mild, Ampel, Ballon, Eidotter, Lampe, Leiche und Münze, Nugget und Null, Scheibe und Spiegel. Keine dieser Erscheinungsweisen resultiert aus der eigenen Himmelsbeobachtung, alle wurden sie beim Blättern in den Büchern aufgelesen. Manchmal tippte Kittler auf die linierten Karten nur den Verweis auf seine heute zu großen Teilen zerstreute, weil an Schüler und Freunde verschenkte Bibliothek (»Mondfarbe: silberblau / Schiller, F.v. Bild zu Sais; 1 p209«), manchmal auch den Text selbst, als gefiele er ihm doch zu gut, um ihn nicht gleich abzuschreiben: »Mondfarbe: gelb 2 / Hölderlin Griechenland III,V. 32sqq: Denn lange schon steht offen / Wie Blätter, zu lernen, o Linien u Winkel / Die Natur / U gelber die Sonnen u Monde«.
Eine Kartei der Vernetzungen und des Nocheinmal, auf Wiedergabe angelegt. Als Kittler 2011 neun Monate vor seinem Tod mit Andreas Rosenfelder von der WELT unter anderem auch über seinen Nachlass sprach, machte er diesen Holzkasten zum Modell eines Archivs – unauslöschbarer Speicher all dessen, was war und was kommt und was sein und gewesen sein könnte: »Ich habe versucht, zumindest die Dateien aufzuheben. Aber die meisten alten CDs sind jetzt kaputt. Meine Zettelkästen dagegen stehen noch hier im Nebenzimmer. Mit Schreibmaschine verfasst, ganz ordentlich geführt. […] Als ich das Christusalter von 33 Jahren erreichte, guckte ich meinen Zettelkasten an und stellte fest, wie viele Themen ich angesammelt hatte, über die ich noch schreiben wollte. Aber dieses Leben reicht dafür nicht. Alle Farben, die der Mond in der Lyrik je bekommen hat, sind da zum Beispiel aufgeführt, auf orangenen DIN-A6-Zetteln. Ich habe das tröstliche Gefühl, dass jemand, der wissen will, wie meine ungeschriebenen Bücher aussehen könnten, das ganz gut rekonstruieren könnte, falls ich plötzlich umfalle.«
Die Erinnerung trog Kittler ein wenig: Viele seiner Mondfarben-Belege stammen aus epischen und dramatischen Texten, aus Prousts Recherche zum Beispiel, Ovids Metamorphosen, Wielands Verserzählungen, Goethes Faust, Flauberts Madame Bovary, Fontanes Effi Briest, Stifters Brigitta, von Kafka, Dürrenmatt, Frisch, Gide, Poe. Auf und über die Linien der Karteikarte, in die Ordnungssysteme von Alphabet, Bibliografie und Tabelle getippt, wird aus ihnen allerdings tatsächlich ein Äquivalent der Lyrik, wenn man sie zu lesen versucht, an optischen, lexikalischen und syntaktischen Lücken hängen bleibt, die schwachen Schreibmaschinen-Zeichen gegen den starken Hintergrund erkennen muss und ununterbrochen die Sprachen und Gattungen, die Intonationen, Perspektiven, Stilhöhen und Sprechhaltungen wechselt. Sie zu lesen ist eine unaufhörliche Differenzierungsleistung unter erschwerten Bedingungen: »Man darf eine vollkommen gelbrote Fläche starr ansehen, so scheint sich die Farbe wirklich ins Organ zu bohren.« Die Lyrik ist Kittlers Idealgattung für das, was er 42-jährig, 1985, in den Aufschreibesystemen als »E-Literatur« bezeichnen wird: jene Literatur, wie sie um etwa 1900 entsteht, »in der ›das Wort‹ etwas ›Überdeutliches‹ und d.h. rein differentieller Signifikant wird. Nach dem Verzicht auf imaginäre Effekte und reale Einschreibungen bleiben Riten des Symbolischen. Diese Riten rechnen weder mit der Ansprechschwelle der Leute noch auf den Beistand der Natur. ›Buchstaben kommen ja in freier Natur nicht vor‹.« Das Ideal dieser absoluten Poesie, in der die Buchstaben den Buchstaben zuliebe verwendet werden und die Zeichen sich vor allem durch ihre sichtbaren Leerstellen definieren, ist Christian Morgensterns Fisch aus den schuppengleichen Längen- und Kürze-Zeichen der antiken Vers-Notation: Fisches Nachtgesang. Nicht weniger absolut zeigt sich die Anthologie, die man sich aus Kittlers Mondkarten zusammenstellen kann und die vielleicht nie geschrieben worden ist, weil sie ihren idealen Erscheinungsort im Holzkasten schon gefunden hat.
Sie möchten in Kittlers Karteikasten blättern? Wir haben es für Sie getan.
Einen kurzen Film gibt es hier:
https://www.youtube.com/watch?v=SKRTotDQ0no&list=PL2sE6vqXIDSACuXeXW2I5NhNpSLPbZAap&index=5
Das flipbook mit 28 Karteikarten hier:
https://www.flipsnack.com/8EB9BB99E8C/friedrich-kittlers-zettelkasten-mit-mondfarben.html
Heike Gfrereis
Beitragsbild: Einige von Kittlers Mondfarben-Karten in der Dauerausstellung ›Die Seele‹ im Literaturmuseum der Moderne. Foto: DLA Marbach.