
Hölderlin blickte aus seinem Turmzimmer in Tübingen stets aus derselben Perspektive auf den Neckar und die Landschaft dahinter – vielleicht ein Grund, warum ihn das Thema der Aussicht in seinen späten Gedichten beschäftigt hat.
Wir haben die Manuskripte von Hölderlins Gedichten Aussicht (1841) Die Aussicht (1843) nach Nantes ins Musée Jules Verne geschickt – und als Antwort eine Illustration von Didier Graffet zu Vernes Roman Die geheimnisvolle Insel bekommen, sowie eine Panoramaaufnahme mit Blick aus dem Museum.


Weil die Helden von Jules Verne entdecken und erkunden, beobachten und erforschen, unterbricht der Autor seine Erzählungen häufig, um zu beschreiben und zu schildern. So enthalten die Romane der Voyages extraordinaires häufig ›Aussichten‹, Landschaften und Panoramadarstellungen. Die Entdeckung der »geheimnisvollen Insel« nach einer langen Reise ist eines der emblematischsten Beispiele:
»Das Meer! Ueberall das Meer!« riefen sie, als hätten ihre Lippen dieses Wort, das sie zu Insulanern machte, nicht zurückhalten können.
Wirklich erstreckte sich rings um sie die ungeheure kreisförmige Wasserfläche. Als Cyrus Smith den Gipfel noch einmal bestieg, leitete ihn vielleicht die Hoffnung, irgend eine Küste, eine nahe gelegene Insel zu entdecken, die er in der Dunkelheit des vergangenen Abends nicht hatte erkennen können. Aber Nichts zeigte sich am ganzen Horizonte, d.h. in einem Umkreise von mehr als fünfzig Meilen. Kein Land war in Sicht, kein Segel auf dem Wasser! Der ganze unendliche Raum wüst und leer, und in seiner Mitte lag die verlassene Insel, ein Steinchen im Weltmeere!
Stumm und unbeweglich musterten der Ingenieur und seine Gefährten einige Minuten lang den Ocean. Ihre Augen durchdrangen ihn bis zu den äußersten Grenzen. Doch selbst Pencroff, der ein so ausgezeichnetes Sehvermögen besaß, bemerkte Nichts, und er hätte doch ohne Zweifel selbst die geringste Spur eines entfernten Landes, und wenn es sich nur durch einen noch so seinen Dunstkreis verrieth, wahrgenommen, denn unter seine Augenbrauen hatte die Natur zwei wahrhafte Teleskope eingepflanzt.
Vom Meere weg schweiften die Blicke über das umgebende Land, welches der Berg vollständig beherrschte, als Gedeon Spilett zuerst das Schweigen mit der Frage brach:
»Wie viel mag die Größe dieser Insel wohl betragen?«
Wenn man sie so mitten in dem grenzenlosen Oceane liegen sah, schien dieselbe nicht sehr beträchtlich zu sein.
Cyrus Smith überlegte eine kurze Zeit; er faßte unter Beachtung der Höhe, in welcher er sich befand, den Umfang der Insel in’s Auge.
»Ich glaube nicht zu irren, meine Freunde, sagte er dann, wenn ich die Küstenentwickelung unseres Reiches auf mehr als hundert Meilen abschätze.
– Folglich beträgt ihre Oberfläche? …
– Das ist schwer zu sagen, antwortete der Ingenieur, dafür ist das Ufer zu unregelmäßig zerrissen.«
Wenn sich Cyrus Smith in seiner Abschätzung nicht täuschte, so hatte die Insel ungefähr die Ausdehnung von Malta oder Xanthes im Mittelländischen Meere; doch erschien dieselbe weit unregelmäßiger gestaltet, und reicher an Caps, Vorgebirgen, Spitzen, Baien, Buchten und Schlüpfhäfen. Ihre sonderbare Form fiel unwillkürlich in’s Auge, und als Gedeon Spilett diese auf des Ingenieurs Wunsch in ihren Umrissen gezeichnet hatte, fand man, daß dieselbe einem phantastischen Thiere mit geflügelten Füßen ähnelte, das auf der Oberfläche des Pacifischen Oceans eingeschlafen war.
Wir geben hier eine kurze Beschreibung der Gestalt der Insel, von der der Reporter sofort eine Karte mit hinreichender Genauigkeit entwarf.
Der Küstenstrich, an dem die Schiffbrüchigen an’s Land gekommen waren, bildete einen weit offenen Bogen und umgrenzte damit eine ausgedehnte Bai, die im Südosten mit einem spitzigen Cap endigte, das Pencroff bei seiner ersten Umschau wegen zwischen liegender Hindernisse nicht hatte sehen können. Im Nordosten schlossen diese Bai zwei andere Landvorsprünge, zwischen denen eine schmale Bucht verlief, so daß das Ganze dem geöffneten Rachen eines ungeheuren Hals nicht unähnlich erschien.
Von Nordosten nach Nordwesten zu rundete sich die Küste ähnlich dem flachen Schädel eines wilden Thieres ab, und erhob sich nach innen zu einer Art Landrücken, dessen Mittelpunkt der Vulkanberg einnahm.
Von hier aus strich das Ufer ziemlich regelmäßig von Norden nach Süden, und war nur in zwei Drittheilen seiner Länge von einem engen Schlüpfhafen eingeschnitten, über den hinaus dasselbe mit einer schmalen Landzunge, ähnlich dem Schwanze eines riesigen Alligators, endigte.
Dieser Schwanz bildete eine wirkliche, gegen dreißig Meilen weit in’s Meer vorspringende Halbinsel, welche von dem schon erwähnten südöstlichen Cap aus eine weit offene Rhede abschloß.
In ihrer geringsten Breite, d.h. zwischen den Kaminen und dem Schlüpfhafen an der nördlichen Küste, maß die Insel höchstens zehn Meilen in der Breite, wogegen ihre größte Länge, von dem Haifischrachen im Nordosten bis zur Schwanzspitze im Südwesten, nicht weniger als fünfzig Meilen betrug.
Das Innere des Landes selbst zeigte etwa folgenden Anblick: Bei reichlichem Waldbestände im Süden, von dem Vulkane aus bis zum Ufer hin, erschien es im Norden dagegen sandig und dürr. Cyrus Smith und seine Gefährten erstaunten nicht wenig, zwischen sich und der Ostküste einen See liegen zu sehen, von dem sie bis jetzt keine Ahnung gehabt hatten. Von dieser Höhe aus betrachtet, schien der See zwar in gleichem Niveau mit dem Meere zu liegen; nach einiger Ueberlegung erklärte der Ingenieur aber seinen Begleitern, daß jene Wasserfläche mindestens dreihundert Fuß über dem Meere liegen müsse, denn das Plateau, auf dem er sich befand, war nichts Anderes als eine Fortsetzung des Oberlandes der Küste.
»Das wäre demnach ein Süßwassersee? fragte Pencroff.
– Ganz gewiß, erwiderte der Ingenieur, denn er nährt sich von dem Wasser, das aus den Bergen abfließt.
– Ich sehe auch einen kleinen Fluß, der in denselben mündet, sagte Harbert, und wies nach einem schmalen Wasserlaufe, dessen Quell offenbar in den westlichen Vorbergen zu suchen war.
– Wirklich, bestätigte Cyrus Smith, und da dieser Bach dem See zufließt, ist es wahrscheinlich, daß das Wasser nach der Seite des Meeres hin auch einen Abfluß hat. Doch das werden wir bei unserer Rückkehr in Erfahrung bringen.«
Dieser kleine, sehr geschlängelte Wasserlauf und der schon bekannte Fluß bildeten das ganze hydrographische System, so weit es die Beobachter augenblicklich zu übersehen vermochten. Damit war die Möglichkeit jedoch nicht ausgeschlossen, daß unter den Bäumen, welche ja aus zwei Drittheilen der Insel einen ungeheuren Wald machten, noch verschiedene Bergflüßchen nach dem Meere verliefen. Bei der Fruchtbarkeit dieser Landstrecken und ihrem Reichthum an prächtigen Pflanzenexemplaren der gemäßigten Zonen wurde das sogar höchst wahrscheinlich. Die Nordseite dagegen zeigte keine Spur von Bewässerung, wenn man etwa einige Sümpfe im Nordosten abrechnete; mit ihren Dünen, Sandflächen und ihrer auffallenden Unfruchtbarkeit stand diese in grellem Widerspruche zu dem übrigen Erdbodenreichthum.
Den Mittelpunkt der Insel nahm der Vulkan übrigens nicht ein. Er erhob sich vielmehr im nordwestlichen Theile derselben, und bildete gleichsam die Grenze zweier Zonen.
Im Südwesten, Süden und Südosten von demselben versteckten sich die Kämme der Vorberge unter einer Decke von dichtem Grün. Nach Norden hin konnte man dieselben aber bis dahin verfolgen, wo sie sich in den sandigen Ebenen allmälig verliefen. Nach derselben Seite hin hatten sich in der Vorzeit auch die Eruptionsmassen gewendet, und ein breiter Lavastrom reichte bis zu jenem Haifischrachen, der den Golf im Nordosten bildete.
Eine Stunde über blieben Cyrus Smith und seine Freunde auf dem Gipfel des Berges. Unter ihren Augen breitete sich die Insel aus wie ein Reliefplan mit seinen verschiedenen Farben, dem Grün für die Waldung, dem Gelb für den Sand, und dem Blau für die Gewässer. So prägte sich ihnen ein Gesammtbild ein, dem freilich die Details des unter dem Grün verborgenen Erdbodens, der Sohlen der schattigen Thäler und des Inneren der engen zu Füßen des Vulkans verlaufenden Schluchten vorläufig abgingen.«
Aus: Jules Verne, Die geheimnißvolle Insel, Leipig [u.a.] 1876 (Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Jules Verne, Bd. 14–16), S. 109–113.
Es ist unschwer zu sehen, wie hier die Imagination zur geografischen Beschreibung gehört, und dass diese Beschreibung rasch zurücktritt gegenüber der Freude an der poetischen Beschreibung und der Betrachtung. Es lohnt sich unbedingt, an dieser Stellte mit der Lektüre fortzufahren – wenn nicht des ganzen Romans, so doch zumindest bis zum Ende des Kapitels um zu sehen, wie nach und nach die ganze Landkarte der Insel poetisch erschlossen wird und ihre verschiedenen Teile aus der Taufe gehoben werden, darunter das »Plateau de Grande-Vue«, die »Hochebene der großen Aussicht« …
Ein derartiges Talent zur Landschaftsmalerei, das in so vielen seiner Romane zum Ausdruck kommt, kann eigentlich nur in der Heimat Jules Vernes geboren sein – in Nantes, gegenüber dem weiten Panorama der Loire. Sie fließt am Fuß der Anhöhe, auf der sich heute das Musée Jules Verne“befindet, während bereits damals »die prächtige Natur […] seine Tage [erheiterte]«, wie es in Hölderlins Aussicht heißt.
Agnès Marcetteau, Musée Jules Verne