Rolf J. Goebel
Bedingt durch den Ausfall aller Konzerte und Opernausführungen angesichts der COVID-19-Krise, sind wir verstärkt auf Archiveinspielungen und spontane Neuaufnahmen im Internet angewiesen. Die gegenwärtige Stimmung vieler von uns, zwischen Angst, Hoffnung, Langeweile schwankend, mag dazu anleiten, erneut darüber nachdenken, was musikalische Atmosphären bzw. ihre technologische Reproduktion zur Hörerfahrung beitragen. Atmosphären, Stimmung und Aura haben eine lange Forschungsgeschichte, die auf Martin Heidegger, Walter Benjamin u.a. zurückverfolgt werden kann, aber in jüngerer Zeit vor allem durch Phänomenologen wie Hermann Schmitz und Gernot Böhme erneuert wurde. Sie wiederum haben medien-, kultur- und literaturwissenschaftliche Ansätze angeregt, durch die das Gebiet weiter an Prägnanz gewonnen hat.
Ihnen folgend will ich einige vorläufige Bemerkungen zum Zusammenspiel zwischen musikalischer Atmosphäre, medientechnischer Reproduzierbarkeit und literarischer Repräsentation wagen, wohl wissend, dass dieses ebenso komplexe wie vieldeutig-unbestimmte Begriffsfeld naturgemäß sich immer wieder der präzisen Festlegung entzieht.
Musikalische Atmosphären sind vorrangige Rahmensituationen, die intuitiv durch ein spontanes Eintauchen in oft unerwartete Klangwelten erfahren und körperlich-affektiv gespürt werden. In ihnen meint man mit dem Gehörten geradezu zu verschmelzen, noch bevor man die Einzelheiten der Komposition und ihrer Darbietung bewusst-analytisch zu verstehen beginnt. Diese Stimmungen können an die Ko-Präsenz der Musiker und des Publikums im Hier und Jetzt des Konzertsaales oder Opernhauses gebunden sein. Im Zeitalter der digitalen Mobilität aber sind sie nicht mehr notwendig an die Räumlichkeit einer bestimmten Live-Aufführung gekoppelt, sondern entfalten sich auf je neue, unvorhersehbare Weise in variablen Hörbereichen unterschiedlicher Nutzer.
Das Nachdenken über elektronisch vermittelte Atmosphären, so meine ich, schickt uns zurück in die Zeiten, in denen die literarische Einbildungskraft das einzige Medium war, in dem man musikalische Atmosphären sprachlich wiedergeben konnte. In seinem Fragment von Hyperion, einer 1794 entstandenen und in Schillers Zeitschrift Thalia erschienenen Vorstufe des großen Brief-Romans, schildert Friedrich Hölderlin, wie Hyperion, in Begleitung der von ihm verzweifelt geliebten Melite, Notara, eines Verwandten ihrer Mutter, und seines Freundes Adamas die Felsengrotte besucht, in der Homer seine unsterblichen Gesänge vorgetragen haben soll: »Stille, traurende Akkorde empfiengen uns vom Felsen herab, unter den wir traten; die Saitenspiele ergossen sich über mein Innres, wie über die todte Erde ein warmer Reegen im Frühlinge. Innen, im magischen Dämmerlichte der Grotte, das durch die verschiedenen Öffnungen des Felsen, durch Blätter und Zweige hereinbricht, stand eine Marmorbüste des göttlichen Sängers, und lächelte gegen die frommen Enkel« (Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, hrsg. von Michael Knaupp, München: Hanser, 1992, S. 503).
Nachdem die Freunde zu Ehren Homers eine Nänie, einen Trauergesang, der Hyperions »Innerstes erschütterte«, anstimmen, heißt es weiter: »Alles war nun stille. Wir sprachen kein Wort, wir berührten uns nicht, wir sahen uns nicht an, so gewiß von ihrem Einklang schienen alle Gemüther in diesem Augenblike, so über Sprache und Äußerung schien das zu gehen, was jezt in ihnen lebte« (ebd.). Schließlich gesteht Hyperion: »Ich war ganz ein andrer geworden«, denn jetzt erkennt er, dass alles, was vergeht und altert, einmal verjüngt wiederkehren wird, dass alles, »was gegenwärtig getrennt ist, seiner umso innigeren Wiedervereinigung in der Zukunft harrt« (505).
Vieles, was musikalische Atmosphären bis in die digitale Gegenwart hinein auszeichnet, ist hier schon auf beispielhafte Weise angedeutet: das Überwältigt-Werden durch affektiv intensive, wenn auch rätselhafte Klänge, die von irgendwo her im Raum auf die Menschen hinzuströmen scheinen; die subjektive Empfänglichkeit, bei der sich das Saitenspiel unwiderstehlich, fast wollüstig ins Tiefste der menschlichen Innerlichkeit ergießt; die magische Harmonie zwischen Klangereignissen und visuell wahrnehmbaren Dingen, hier dem Dämmerlicht, der in die Natur eingebettete Grotte und der Büste Homers; die Resonanz auf das betörende Saitenspiel durch den eigenen Gesang; die für die Musik-Metaphysik der Klassik und Romantik typische Erfahrung, dass die Musik spontan-intuitiv in ihrem Wahrheitsanspruch und ihrer emotionalen Dringlichkeit gespürt, nicht aber in allen Details sprachlich-interpretativ artikuliert werden kann; und schließlich die existentiell zutiefst verwandelnde Macht der Musik, in der ein utopisches Hoffnungs- und Versöhnungspotential erklingt.
Natürlich ist sich Hölderlin des Paradoxes bewusst, dass er eben diese Unaussprechbarkeit der musikalischen Atmosphäre verbalsprachlich einfangen will. Sein zutiefst melodisch dahinfließender, metaphernreicher, hymnisch-emotional aufgeladener Stil reflektiert diesen Zwiespalt. Die Kluft zwischen dem Klanglichen und seiner poetischen Artikulierung ist allerdings ein ästhetisch produktives Moment, regt es doch die Einbildungskraft des Dichters und seines Publikums dazu an, die Möglichkeiten wie Grenzen der sprachlichen Korrespondenz zwischen Musik und Verbalsprache kritisch zu reflektieren. Der Erkenntnisgewinn dieser hermeneutischen Arbeit, so meine ich, hilft uns heute, auch die atmosphärischen Differenzen zwischen Live-Aufführung und medientechnischer Reproduzierbarkeit neu zu bedenken. So kann der notwendige, durch die technische Wiedergabe bedingte Verlust an stimmungsmäßiger Unmittelbarkeit, die eine Live-Aufführung auszeichnet, durch die körpernahe Intensität kompensiert werden, mit der die Klänge mittels avancierter Ohrhörer direkt in unseren Kopf und Geist zu strömen scheinen—ähnlich dem Überwältigungserlebnis, das schon Hyperion in seiner Felsengrotte widerfuhr.
Zum Foto: Hölderlins Widmung im Hyperion-Exemplar für Susette Gontard 1799 – ein Zitat aus dem Hyperion, wo der Titelheld nach dem Besuch in der Felsengrotte dem Denkmal des Dichters Homer mit den Worten »Wem sonst, als dir?« eine Locke opfert. Hier das Zitat im Zusammenhang:
»Alles war nun stille. Wir sprachen kein Wort, wir berührten uns nicht, wir sahen uns nicht an, so gewiß von ihrem Einklang schienen alle Gemüter in diesem Augenblicke, so über Sprache und Äußerung schien das zu gehen, was jetzt in ihnen lebte.
Es war Gefühl der Vergangenheit, die Totenfeier von allem, was einst da war.
Errötend beugte sich endlich Melite gegen Notara hin, und flüsterte ihm etwas zu.
Notara lächelte, voll Freude über das süße Geschöpf, nahm die Schere, die sie ihm bot, und schnitt sich eine Locke ab.
Ich verstand, was das sollte, und tat stillschweigend dasselbe.
Wem sonst, als dir? rief der Tiniote, indem er seine Locke gegen den Marmor hielt.
Auch die andern gaben, ergriffen von unsrem Ernste, ihr Totenopfer.
Melite sammelte das andere zu dem ihrigen, band es zusammen, und legte es an der Büste nieder, indes wir andern wieder die Nänie sangen.
Das alles diente nur, um mein Wesen aus der Ruhe zu locken, in die es gesunken war. Mein Auge verweilte wieder auf ihr, und meine Liebe und mein Schmerz ergriffen mich gewaltiger, als je.«
Vom 1. bis 4. Oktober hätten auf der GSA, der Jahrestagung der German Studies Association in Washington, D.C., zwei Panels der Amerikanischen Freunde des Deutschen Literaturarchivs stattfinden sollen, davon eines zu Hölderlin mit Rolf J. Goebel (University Alabama, Huntsville), James McFarland (Vanderbilt University, Nashville), Lynn L. Wolff (Michigan State University, East Lansing), Martha B. Helfer (Rutgers University, New Brunswick) und Anna Kinder (DLA). Als Ersatz haben wir die Teilnehmer um Einblicke in ihre Panelthemen gebeten.